Der erschoepfte Mensch
Freund, zeigte ihm seine Körperreaktion, ob er auch angstfreies sexuelles Interesse an der jeweiligen Freundin hatte oder eben nicht. (Ich betone »angstfrei« deshalb, weil psychische Anspannung – ich bezeichne dies als »Premierenangst« – häufig den nötigen Blutandrang blockiert, dieser Erwartungsdruck jedoch nicht mit mangelndem Begehren gleichgesetzt werden sollte.)
Auffallend im Sinne von Gunter Schmidt, Erich Fromm oder auch Ivan Illich ist, dass gleichzeitig mit dem Auftauchen des Themas Lustverlust in den Medien zwei andere Themen breiten Raum eroberten: einerseits Aufforderung zu unternehmungslustiger Alterssexualität, andererseits Potenzpillen für den Mann, sprich Viagra, Cialis und Co. Man(n), vor allem aber auch frau soll bis ins hohe Alter sexuell aktiv sein. Wer diesem medial propagierten Aktivitätsvorbild aus welchen Gründen auch immer nicht entspricht, soll die chemischen Zaubermittel konsumieren, damit die neu aufgestellte gesellschaftliche Norm erfüllt wird. Der Zusammenhang erscheint mir unübersehbar: Ein Tisch wird gleichsam gedeckt, damit die Vorübergehenden Appetit auf die Speisen bekommen – egal, wie wohlgefüllt, überlastet oder beleidigt ihr Magen bereits ist, und wenn man nicht schlucken will, wird man als Spaßverderber/in diskriminiert.
Wenn man sich den Magen verdorben hat, ist Fasten angesagt, und essen sollte man nur dann, wenn man Hunger verspürt, und nicht, weil jemand auf der Einhaltung von Essenszeiten besteht oder seine Nahrungsproduktion nach dem Motto »Der Appetit kommt beim Essen« unbedingt sofort anbringen will.
Lustverlust hat im Wesentlichen zwei Ursachen:
~ Verlust an Vitalität, das kann die Folge einer depressiven Störung oder Erkrankung sein oder von Mangelernährung oder auch »nur« von blanker Erschöpfung.
Ich erinnere mich an einen Klienten in der bereits erwähnten Sexualberatungsstelle, der vermutete, seine Frau wolle sich deswegen von ihm trennen, weil er seine sexuelle Potenz verloren hätte. Tatsächlich arbeitete der Mann im Bemühen, sein kleines Unternehmen vor dem Konkurs zu retten, tagsüber in seinem Geschäft, war dann Billetteur in einem Theaterbetrieb und fuhr anschließend noch einige Stunden Taxi. Dass er energielos war, war aber nur ein Teil seiner Notlage. Der weitere war, dass er keinerlei Interesse mehr an etwas anderem hatte als an seiner Firmenrettung und dementsprechend sauer auf alle Versuche seiner Frau wie seiner Kinder reagierte, ihm Pausen und Abschalten und damit ein Minimum von Partnerbeziehung schmackhaft zu machen, und zuletzt seine daraus folgende Persönlichkeitsveränderung. Diese war es auch, die ihm Einsicht unmöglich machte: Er wollte nur ein schnelles Rezept, um seiner Frau beweisen zu können, dass er sehr wohl kraftvoll wäre und sie mit ihren Sorgen um seine Gesundheit unrecht hätte.
~ Oder es findet ein – offener oder verdeckter – Machtkampf statt, der Energie bindet, sodass sie nicht mehr für andere Interessen zur Verfügung steht. Das vorherige Beispiel zeigt, wie leicht liebevolle Sorge als Unverständnis oder Tyrannei umgedeutet werden kann.
Es tut weh, wenn jemand, der seine Partnerperson aufheitern will, vorgeworfen bekommt, er oder sie mache nervende Anspielungen und solle einen doch endlich in Ruhe lassen. Es braucht viel Liebe, sich dann nicht von der Aggression des stacheligen Gegenüber 186 anstecken zu lassen, sondern sich selbst zu versichern, dass man sich korrekt verhält und die andere Person auf diese Weise dem leib-seelischen Zusammenbruch entkommen will, der bei Entspannung vermutet wird.
Die Angst davor, was geschehen könnte, wenn man aus dem Hamsterrad aller Anforderungen abspringt, besagt im Klartext, dass man erahnt, dass man dann eine lange Pause zur Regeneration benötigen würde, um wieder das alte Tempo aufbauen zu können. Mir sagte einmal ein potenzieller Klient im Erstgespräch, zu dem er von seinem Hausarzt vermittelt worden war, er wolle nicht in Psychotherapie gehen, weil er dann womöglich darauf kommen könne, dass er sein ganzes Leben umstellen müsse, und das mache ihm große Angst. Ich pflege in solchen Augenblicken immer zu fragen: Zu wem wollen Sie halten? Zu sich und Ihrer Gesundheit oder zu all denen, die keine Änderung bzw. zumindest die Aufrechterhaltung des Anscheins von unerschütterlicher Verlässlichkeit wollen?
Sexualität kann unterschiedlich interpretiert werden: biologisch als Geschlechtlichkeit an sich oder sozial als eine bestimmte
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