Der erschoepfte Mensch
Seinsform und Verhaltensweise. Die meisten Menschen stellen sich nie die Frage, was für ein Mensch mit welchem Verhalten, daher auch welcher Ethik, sie sein wollen. Sie kennen nur »richtig« oder »falsch« und orientieren sich nach dem Mainstream, weil sie eben »dazu gehören« wollen. Das ist Moral – die von außen auferlegten »alten« traditionellen oder »neuen« progressiven Werte –, und die entfremdet vom innersten Kern des Selbst. Ethik hingegen stellt die eigenverantwortete und als Balance zwischen Begierde und Vernunft erarbeitete Positionierung innerhalb der Bandbreite der Möglichkeiten in der gegenwärtigen Multioptionsgesellschaft dar. Sie ist eigenständige Gewissensentscheidung und daher mehr als Moral.
Begierde wurzelt in der
Phantasie von Befriedigung,
Entspannung und auch Ablenkung
von der quälenden Leere.
Begierde wurzelt in der Phantasie von Befriedigung, Entspannung und auch Ablenkung von der quälenden Leere des Energiemangels. Vernunft hingegen wagt die Seelentiefe auszuloten und damit zwischen körperlichem, seelischem und erträumtem Zustand zu unterscheiden und dadurch zu der Erkenntnis des echten Bedürfnisses zu gelangen.
Das echte Bedürfnis heißt, sich in seiner Ganzheit – mit den guten wie den schlechten Seiten – angenommen fühlen. Damit werden seelisches Wachstum und Reife erst möglich: Wenn man erkennt, auf welcher Entwicklungsstufe man gerade steht. »Angenommen« ist nicht gleichbedeutend mit »sich geliebt fühlen«. Vielen Menschen kann das Feuer oder die stete Glut der Liebe zu heiß sein; sie sorgen dann meist auch für Abkühlung – leider nicht immer mit wohlgesetzten Worten und verletzen so die Selbstbestimmung der anderen. Aber immer mehr Menschen erkalten seelisch und suchen Entflammung – auch wenn dies nur über Schamesröte gelingt wie bei der Suche nach verbotener, weil krimineller Pornografie (mit Kindern, Tieren oder Folterungen) im Internet. Sie wissen nicht und wollen auch nicht wissen, dass sie auf diese Weise das Loch in ihrer Seele mit Giftmüll stopfen.
7 . Auf der Suche nach dem verlorenen Humor
Nur wenn der Geist des Spiels erhalten bleibt,
entgeht die Kunst der Gefahr der Industrialisierung.
L IN Y UTANG 187
Unsere Gefühle und damit auch Bewertungen machen wir selbst: Wir verspüren eine Emotion – eine innerliche Bewegung – und geben ihr sogleich und unbedacht den Namen, den wir seinerzeit in Kindheit und Jugend noch unkritisch von unseren Bezugspersonen übernommen haben. So wird aus der neu erlebten inneren Veränderung ein »Gefühl«: Man identifiziert nach dem augenblicklichen Wortschatz – aber gleichzeitig bewertet man auch mit angenehm oder unangenehm, erfolgversprechend oder negativ folgenträchtig.
Wenn man jedoch innehält und überlegt, mit welchem Wort man die aufsteigende Erregungsqualität eigenständig bezeichnen will, beginnt die Freiheit, aus vielen möglichen Gefühlsvariationen diejenigen zu wählen, die einen nicht zum Opfer seiner »humores« – ich übersetze diesen Begriff aus der Elementenlehre des Empedokles (um 490 – um 430 v. Chr.) nicht als »Säfte«, sondern als Neurotransmitterausschüttungen – verdammt, sondern Gestaltungsmacht im Sinne des Prinzips Salutogenese, wie ich es definiere 188 , verleiht. »Die Tatsache, dass unsere seelisch-körperlichen Aktivitäten durch die periodische Ausschüttung von Botenmolekülen gesteuert werden, bedeutet allerdings nicht, dass wir von unseren Hormonen kontrolliert werden«, mahnt gleicherweise Ernest Rossi, denn: »Wir wissen, dass unsere Gedanken, Einstellungen und Gefühle die Freisetzung und den Fluss dieser Botenmoleküle ebenso beeinflussen können, wie sie ihrerseits unser Denken, Fühlen und Verhalten beeinflussen.« 189
DER INNERE SAFTLADEN
Die sogenannte Vier-Säfte-Lehre wurde von den Hippokratikern als Krankheitskonzept entwickelt und von Galen, einem antiken griechischen Arzt, der im 2. Jahrhundert vor Christi Geburt gelebt hat, vervollkommnet. »In der ganzen mittelalterlichen Medizin wurden, zum Teil zurückgehend auf Galen und auf den Islam, verschiedene Typen von Seelen verschiedenen Körperregionen und -systemen zugeordnet«, erinnert James Hillman. 190 Der Ursprung dieser auch Humoralpathologie genannten Sichtweise auf Analogien zu den vier Elementen oder zu bestimmten Tieren wird in Ägypten vermutet. So schreibt Hillman: »Schon in den ägyptischen Ritualen wurde eine Verbindung hergestellt zwischen bestimmten Organen und
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