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Der erste Weltkrieg

Der erste Weltkrieg

Titel: Der erste Weltkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Berghahn
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keine Ahnung von der Verzweiflung und der Desillusionierung der Bauern auf dem Lande und den Arbeitern in den Städten. Ja, selbst von der schwindenden Moral der Truppen hatten sie kaum einen Schimmer.
    Waren die Streiks und Demonstrationen 1915 und 1916 noch überwiegend ökonomischer Natur gewesen, so politisierte sich der Protest im Winter 1916/17 zunehmend. Nach neueren russischen Berechnungen fanden 1916 über 2300 Streiks mit 1,8 Millionen Teilnehmern statt. Davon waren nur 347 als politisch einzustufen. In den ersten zwei Monaten des Jahres 1917schnellte die Gesamtzahl auf 751 hoch, von denen 412 politischer Art waren.
    Das Ende der russischen Monarchie kam, als im Februar 1917 die Truppen, die gegen die Demonstrationen in Petrograd eingesetzt worden waren, Schießbefehle verweigerten und sich mit der Bevölkerung zu verbrüdern begannen. Zugleich mit der Herrschaft über die Straße verlor Nikolaus II. die Kontrolle über das Parlament. Die Abgeordneten – man stelle sich die Insubordination vor! – weigerten sich, der Auflösungsordre, die der Zar am 26. Februar unterzeichnete, Folge zu leisten. Tags darauf konstituierte sich ein Vollzugskomitee der Duma, in das die Mitglieder eines Progressiven Blocks gewählt wurden. Kurzum, das die Duma dominierende Bürgertum suchte nach einem eigenen Ausweg aus der Krise.
    Derweil bemühten sich an diesem Tage auch die demonstrierenden Arbeiter, Ordnung in das Chaos auf den Straßen zu bringen. Dabei griffen sie auf das Vorbild der revolutionären Unruhen des Jahres 1905 zurück. Wie damals bildeten sie spontan Arbeiter- und Soldatenräte (Sowjets), die ebenfalls einen Exekutivrat wählten. Obwohl zunächst in einem Konkurrenzverhältnis zu dem Duma-Komitee stehend, gelang es beiden Institutionen, ihre jeweiligen Ziele – voran die Abdankung des Zaren – zu koordinieren. Eine Delegation wurde ins Hauptquartier bei Pskow geschickt, die den Monarchen zwang, seinen Platz zu räumen. Da auch seine Generäle ihn jetzt im Stich ließen, brach die Monarchie praktisch zusammen. Der Versuch, die Institution des Zarismus zu retten, indem man den Großherzog Mikail als Regenten einsetzte, scheiterte, als dieser erst das Urteil einer verfassunggebenden Versammlung abwarten wollte.
    Die Macht lag mit der Abdankung von Nikolaus II. auf der Straße und wurde als Erstes von den meist bürgerlichen Duma-Politikern aufgegriffen. Sie bildeten eine Provisorische Regierung, die mit der Zustimmung der Arbeiter- und Soldaten-Sowjets die verschiedenen Ministerien mit ihrem Stab an Bürokraten übernahmen. Da der Premier der neuen Regierung, Prinz Lwow, die Dinge eher resigniert laufen lassen wollte, gewannenAußenminister Paul Miljukow und der brillante Redner Alexander Kerensky als Justizminister schnell an Einfluss. Zu den Konzessionen, die die Provisorische Regierung sofort an die Sowjets und die Bevölkerung machte, gehörten die Einführung bürgerlicher Freiheiten und die Entlassung der politischen Gefangenen und sibirischen Exilanten des alten Regimes.
    Die Frage war, ob sich die Lage durch eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen der Provisorischen Regierung und den Arbeiter- und Soldatenräten, die für die Massen an Front und Heimatfront zu sprechen beanspruchten, auf der Basis der im Februar geschaffenen Machtverhältnisse stabilisieren ließ oder ob die einmal in Gang gesetzte Dynamik auf noch radikalere Umwälzungen hinarbeitete. Da die Sowjets der Provisorischen Regierung ihre Exekutivbefugnisse nicht sofort streitig machten, standen die Chancen für eine Stabilisierung zunächst nicht schlecht. Doch scheiterte sie schon bald daran, dass Front und Heimatfront, Krieg und Frieden, Innen- und Außenpolitik mehr denn je wie kommunizierende Röhren miteinander verbunden waren.
    Obwohl zu diesem Zeitpunkt selbst nicht an einer Machtübernahme interessiert, beobachteten die Sowjets die Entscheidungen der Provisorischen Regierung mit erheblichem Misstrauen, vor allem soweit sie die Armee betrafen. Am Heer hing in erster Linie, ob sich Russland dem Druck der Alliierten beugen und den Krieg gegen den Zweibund weiterführen oder ob es, dem Friedenswunsch der Soldaten und der Bevölkerung folgend, mit Berlin und Wien einen Waffenstillstand abschließen würde. In dem Ringen um die Kommandogewalt über die Armee lösten die Sowjets mit ihrem Befehl Nr. 1 vom 1. März 1917 einen Machtkampf um ebendiese Fragen aus. Diesem Befehl zufolge sollten Sowjets auch in der Armee offiziell

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