Der erste Weltkrieg
Weiten des Landes, zumal auch die Verluste schließlich auf 1,6 Millionen stiegen und der Krieg auf dem Wege der Todesbenachrichtigung in die kleinsten Dörfer kam. Auch die Ungewissheit über das Schicksal der vielen Kriegsgefangenen und Vermissten entfachte weit hinter der Front die Friedenssehnsucht. Außer den Bauern-Soldaten und ihren Familien, deren bittere Erfahrungen die Armee für einen modernen Krieg immer ungeeigneter machten, gab es die Arbeiter, die in den Großstädten und Industrievierteln ein radikales Potenzial darstellten. Ihr Leben wurde bald durch die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln beeinträchtigt, die zwar im Prinzip vorhandenwaren, aber nicht dorthin kamen, wo sie am meisten gebraucht wurden. Für dieses Chaos machten die Arbeiter und Großstädter zu Recht die Behörden und schließlich die Monarchie selbst verantwortlich. Sehr negativ wirkten auch die vielen Gerüchte über den Einfluss dunkler Kräfte auf den Zaren und seine Frau, voran des Mönchs Rasputin, der bis zu seiner Ermordung am Zarenhof tatsächlich eine sehr unheilvolle Rolle spielte.
So schmolz das Prestige des Regimes, das in den Arbeitervierteln schon in Friedenszeiten nicht sehr groß gewesen war, dahin, und der Graben zwischen der zaristischen Autokratie und der Bevölkerung vertiefte sich. Zwar gab es Kräfte, die zwischen den beiden zu vermitteln und den Zaren zu überreden suchten, wenigstens politische Reformen und für die Nachkriegszeit eine Öffnung des Systems zu versprechen. Dabei ging es nicht um eine Demokratisierung von unten, sondern eher um eine gemäßigte Parlamentarisierung, durch die Institutionen wie den lokalen Semstwos und der Duma, dem Nationalparlament, größere Mitspracherechte gegeben werden sollten.
In diesem Sinne hielt z.B. der liberale Prinz Georgi Lwow Ende 1915 vor der Union der Semstwos eine Rede, in der er offen zugab, dass die Regierungsmaschinerie bankrott und von den durch den Krieg entstandenen Belastungen überwältigt worden sei. Doch, so fuhr er fort, die Vertreter der Semstwos seien in die Bresche gesprungen. Die Geschichte habe ihnen daher eine schwierige Aufgabe auferlegt und sie ans Steuer des Staatsschiffes berufen. Das Land warte nicht nur auf Frieden, sondern auch auf eine Umorganisation, die die Vereinigung aller Kräfte erfordere. Er, Lwow, sei glücklich, über die Einigkeit, die zwischen den Semstwos und den Massen bestehe. Er bedauerte, dass eine ähnliche Solidarität zwischen der zaristischen Regierung und dem Volke nicht auszumachen sei. Gleichwohl sei er gerade auch nach den längeren Bemühungen der Duma als dem nationalen Parlament von der Notwendigkeit überzeugt, dass die Verbindung zum Zarentum hergestellt werden müsse, selbst wenn die Regierung es immer noch für unnötig halte, die Volksvertretungen im Interesse des Endsieges mitarbeiten zu lassen.Die Duma, so schloss Lwow, müsse daher ihre Arbeit so schnell wie möglich aufnehmen.
In dieselbe Kerbe hieb ein Jahr später der Präsident der Duma, Mikail Rodzianko. Er hatte bei einer Inspektionsreise mit Entsetzen gesehen, wie Verwundete auf Güterwagen behandelt wurden, weil die Lazarettbehörden unfähig waren, Betten zur Verfügung zu stellen. Als er sich um eine Änderung dieser Zustände bemühte, stellte er fest, dass der Leiter der Sanitätsabteilung sich der Protektion höchster Stellen erfreute. Es sei, wie Rodzianko empört feststellte, daher unmöglich gewesen, seine Entlassung zu erwirken. Inzwischen, so fuhr der Präsident fort, hätten sich auch die Verhältnisse an der Heimatfront verschlimmert. Kriegsgewinnlertum und Korruption hätten riesige Ausmaße erreicht. Die Lebenshaltungskosten in den Städten stiegen allein, weil die Transportmittel fehlten. Wenn in den Fabriken aus Protest die Arbeit niedergelegt werde, würden häufig jene verhaftet, die für Ordnung und die Wiederaufnahme der Arbeit plädiert hätten.
So verzweifelt sich Lwow und Rodzianko auch um Kurskorrekturen und Reformen bemühten, sie stießen beim Zaren und seinen erzkonservativen Beratern auf Ablehnung. Nikolaus II. äußerte sich gelegentlich zynisch über «den dicken Rodzianko», auf dessen Rat er gewiss nicht hören werde. Als sich die Krise immer mehr zuspitzte, fuhr der Zar ins militärische Hauptquartier, wo er isoliert von den Realitäten im Lande von Reaktionären und Generälen umgeben war, zu deren politischem Arsenal nur die Peitsche für die Unruhestifter an der Heimatfront gehörte. Sie alle hatten
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