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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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und Steine bei sich.
    Sie schrien und blieben stehen. Ich schrie und ging weiter, weil die Biegung des nächsten Tunnels vor mir lag. Ein paar von ihren Anführern kamen auf mich zu und umzingelten mich. Einer von ihnen schlug mir mit einem schmutzigen Knüppel, in dem ein Nagel steckte, auf die Schulter. Ich war mir niemals sicher gewesen, aber nun fiel mir ein, daß ich der Junge gewesen war, den sie damals geschnappt hatten. Bei einer Sache, die übel ausgeht, vergesse ich immer sehr schnell, welche Rolle ich gespielt habe, weil ich auch die Gefühle der anderen spüre und lieber bei den Siegern bin. Als die Araberkinder mich schnappten, war ich acht Jahre alt. Ich hatte zwar meine Augen schützen können, aber meine Nase erinnerte sich noch genau daran, wie es ist, wenn sie eingeschlagen wird. Und ebenso wußten meine anderen Körperteile, daß man sie grün und blau geschlagen hatte. Diese Erinnerung war eine schmerzhafte Sache. Ich geriet dermaßen in Panik, daß ich plötzlich wieder die gleichen Kinder auf mich zurennen sah. Die Welt geriet ins Schwanken. Ich packte mir den Jungen, der mich mit dem Knüppel getroffen hatte und warf ihn gegen die anderen. Sie fielen um wie Kegelfiguren. Dann zog ich den Knüppel mit dem Nagel aus meiner Schulter. Der Nagel war rostig.
    „Verrückte Araber!“ schrie ich, so daß die Wände meine Worte als Echo zurückwarfen. „Könnt ihr euch nicht wie Menschen aufführen?“ Ich nahm den Knüppel, duckte mich und ging brüllend auf sie los. Da zerstreuten sie sich und verschwanden wie ein Rudel verängstigter Ratten quiekend in den Gängen.
    Ich hatte nicht viel Zeit. Bald würden sie mit ihren großen Brüdern zurückkommen. Auch die erwachsenen Araber standen auf Foltern. Ich lief brüllend durch einen Seitengang, damit sie dachten, ich würde jemanden verfolgen, und nicht auf die Idee kamen, daß ich türmte. Irgendwo war hier noch ein anderer Treppenaufgang. Wir hatten ihn zugemacht und die Tür mit Zement verputzt, so daß sie aussah wie festes Gestein. Die zwölf Jahre zwischen acht und zwanzig sind ein Leben, aber nicht für eine Holztür. Sie war noch immer da.
    Ich langte nach dem Stein, der den Türknauf verdeckte, zog die Tür auf und glitt durch den Spalt, ehe er auch nur dreißig Zentimeter breit war. Auch auf der Rückseite der Tür gab es einen Knauf. Ich zog daran, riß die Tür ins Schloß und versperrte sie mit einem Riegel. Hoffentlich waren die Kinder schnell weitergerannt und hatten nicht gesehen, wie ich hinter der Wand verschwunden war.
    Mit dem Geruch von Staub und Zement in der Nase kroch ich in totaler Blindheit die enge Treppe hinauf. Dabei verletzte ich an den steinigen Wänden meine Knöchel und erzeugte scharrende Geräusche, als unter meinen Beinen allerlei Geröll und Steinchen in Bewegung gerieten und unter mir wegrutschten. Dann hielt ich an und dachte nach.
    Ich war hier, um zu versuchen, Ahmed zu finden. Man nahm an, daß ich ihn aufspüren konnte, indem ich seine Vibrationen einfing. Aber bisher hatte ich nichts weiter getan, als der Theorie zu folgen, daß er durch den alten Geheimgang ins Araberland eingedrungen war oder sich – als Araber verkleidet – durch den Haupteingang geblufft hatte, aber später geschnappt wurde. Und ich, der in Theorie immer ’ne glatte Fünf hatte, versuchte ihn anhand einer Theorie aufzuspüren! Wenn ich meinen Ahnungen nachgegangen war, hatte ich immer mehr Glück gehabt. Es war wohl besser, wenn ich das tat, was der Chef vorgeschlagen hatte: meinen Gefühlen folgen.
    Wenn Ahmed in Schwierigkeiten war – welche Vibrationen würde er dann aussenden? Ich stand da, dachte nach und versuchte mich an eine ähnliche Sache zu erinnern. Ich kann mich daran erinnern, neben ihm zu stehen und ihm die Hand zu schütteln. Ich erinnere mich daran, wie er mir auf die Schulter klopft und mir die Hand schüttelt, weil er mir gratulieren will oder so was. Ich erinnere mich daran, ein untersetzter, dicklicher, starker Junge von zwölf gewesen zu sein. Ich erinnere mich an Ahmed, der ein Jahr älter und einen Kopf größer ist. Er hat die High School zur Hälfte hinter sich. Er ist groß und stark und körperlich durchtrainiert wie ein Windhund. Er liest Bücher, kriegt gute Noten in Mathematik, kommt mit der Lehrerin gut zurecht und fuhrt seinen Stamm auf Entdeckungsreisen durch die Stadt. Er hat nie Vibrationen ausgestrahlt, die anzeigten, daß er in Schwierigkeiten war. Ahmed hat nie Schwierigkeiten gehabt. Er war

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