Der Esper und die Stadt
ich mich konzentrieren konnte. Wir mußten verhindern, daß sich das gleiche Desaster in der Jersey-Kuppel wiederholte. Wer immer dafür verantwortlich war, er würde sich darüber freuen, wenn er die Explosion auf dem Bildschirm sah. Wer dafür verantwortlich war, mußte sich an der Zerstörung erfreuen und Spaß am Tod und dem Blut der kleinen Stadt haben. Ich ließ mich einfach sinken. Ich war jemand. Ich ließ meinen Geist durch die Stadt tasten und suchte nach jemandem, der sich über die Explosion freute.
„Die Polizei untersucht den Explosionsfall immer noch“, sagte das Murmeln und wurde lauter, als wir den nächsten Fernsehzuschauer auf der Langsamspur passierten. Jemand gab dem Sprecher einen Zettel. „Ah, da kommt eine weitere Nachricht. Bell Telephone hat den Ermittlungsbehörden acht Aufzeichnungen aus öffentlichen Telefonzellen in der Brooklyn-Kuppel ausgehändigt. Diese Anrufe wurden in dem Moment getätigt, als die Kuppel vernichtet wurde.“
Hinter dem Sprecher wurde ein Gesicht eingeblendet. Es handelte sich um das vergrößerte Abbild einer telefonierenden Frau. Nach einem Augenblick der Gewöhnung nahm das Frauengesicht für den Betrachter normale Dimensionen an. Der Sprecher schrumpfte auf Ameisengröße zusammen und wurde nicht mehr wahrgenommen, als die Frau eilig sprach. „Ich halte es hier keine Minute mehr aus. Ich wäre ja schon gegangen, aber es geht nicht. Der Bahnhof ist völlig verstopft, und vor den Fahrkartenschaltern stehen lange Schlangen. So was habe ich noch nie gesehen. Jerry besorgt Fahrkarten. Hoffentlich beeilt er sich.“ Das ängstliche Gesicht der Frau sah sich nach zwei Seiten um. „Ich höre die komischsten Geräusche, wie Donner. Oder wie ein Wasserfall.“
Die Frau schrie auf, dann kippte der Hintergrund weg, und die Telefonzelle fiel zur Seite. Eine Hand flog am Objektiv der Kamera vorbei, die Finsternis kam in mehreren Lagen, dann zerbrach das Bild und wurde zu einem statischen Knistern. Der Bildschirm wurde grau, und der ameisenartige Sprecher, der genau davor saß, nahm seine Rede wieder auf. Die Kamera fuhr auf ihn zu, bis er wieder seine Normalgröße hatte. Er zeigte ein Schaubild.
Ich machte die Augen auf und reckte mich. Um mich herum schauten die Leute auf ihre Bildschirme und sahen sich die Bilder an, die ich gerade vor meinem geistigen Auge betrachtet hatte. Ich sah ein Schaubild jenes Platzes, an dem sich die Telefonzelle in der Brooklyn-Kuppel befunden hatte, und dann kam eine weitere Aufzeichnung von einem nichtsahnenden Menschen, der dem Tode geweiht war, ohne zu wissen, was ihm passieren würde.
Ausdruckslos schauten die Leute in den sich bewegenden Subway-Sesseln zu und umklammerten ihre Fernseher, als warteten sie darauf, daß die Decke einstürzte. Das Publikum bekam etwas geboten … Machthunger, großartige Sachen, Wumm! Unbändige Kräfte, Vollkommenheit … den bewundernswerten Triumph völliger Zerstörung. Eine tolle Show. Hoffnung auf noch mehr Entsetzen.
In der ganzen Stadt sahen die Leute sich den unbekümmert telefonierenden Narren an und warteten darauf, daß es endlich losging. Sie sehnten das Unheil förmlich herbei und hofften, daß es diesmal noch größer, schwärzer, beängstigender und vernichtender zuschlug.
Ich machte die Augen zu, bis die heiseren Schreie verklungen waren, musterte den Hinterkopf eines anderen vorüberfahrenden TV-Betrachters und wandte mich dann um, um das Gesicht der Frau zu sehen. Sie bemerkte mich nicht. Sie starrte gedankenverloren auf den Bildschirm, und ihr Gesicht zeigte nicht den geringsten Ausdruck.
Ob sie zugeben würde, daß sie sich freute? Wußte sie überhaupt, daß sie einen donnernden Wasserfall dazu drängte, endlich herabzustürzen und den Tod mit sich zu bringen? Es war typisch für Fernsehzuschauer. Sie lieben das Extreme. Zugute halten konnte man ihr höchstens, daß sie ein junges Liebespaar, das sich auf dem Bildschirm zeigte ebenso dazu drängen würde, sich inniger zu küssen, damit sie sich an ihren Zärtlichkeiten erfreuen konnte. Wer das Leben liebt, liebt auch den Tod.
Ich ließ mich tiefer in meinen Sessel sinken, schloß die Augen und glitt auf den Wellen der Emotionen dahin, die Millionen von Fernsehzuschauern in diesem Moment empfanden: Gefühle, die durch das Zusehen synchronisiert wurden. Die Masse genoß das Grauen und den Tod einer kleinen Stadt. Immer wieder Erwartung, Vorfreude, Panik, Vernichtung, Ende, Befriedigung.
Der im stillen angebetete Gott des Todes
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