Der Esper und die Stadt
Tief unter mir erklangen die stetigen Verkehrsgeräusche von dem weißen Band der untersten Ebene der Brückenstraße. Die Radfahrer auf der obersten Ebene radelten vorbei wie Ameisen.
In der Ferne stieg mit flatternden Schwingen eine Möwe auf und kam auf mich zu. Sie fand einen Aufwind und ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen treiben. Sie bewegte sich nicht und blieb schwebend vor mir stehen, mit hübschen weißen Flügeln, einem sardonischzynischen Kopf mit nach unten gerichtetem Schnabel und ausdruckslos musternden Augen.
Es reizte mich, die Hand auszustrecken und zuzupacken. Ich verlagerte den Griff einer Hand auf der Querverstrebung und schwang ein Knie über den Träger.
Die Möwe richtete die Spitzen ihrer Schwingen nach unten, stieg auf und entfernte sich wieder. Sie war jetzt etwas weiter weg.
Schließlich wurde mir klar, daß ich nicht dumm genug war, um mich von einer Möwe hereinlegen und von der Brücke stürzen zu lassen.
Die Möwe kippte zur Seite, jagte einen langen, unsichtbaren Abhang hinab und kreischte: „Krie! Ha, ha, ha. Ha, ha, ha …“ Es klang wie ein Gelächter. Ich hoffte, sie würde zurückkommen und sich mit mir anfreunden, aber ich hatte noch nie davon gehört, daß jemand Freundschaft mit einer Möwe geschlossen hatte. Ich kletterte an den steilen Trägern abwärts und ging dabei vorsichtig zu Werke. Ich tastete mit Fingern und Zehen und fand eine Eisenleiter, die an der Turmecke angebracht war. Ich kletterte auf dem schnellsten Weg nach unten und gelangte an einen Farbenschrank und ein Telefon. Etwa drei Meter oberhalb der Fahrbahn sah ich den Radfahrern und Fußgängern zu, als ich die Rettungsbrigade anwählte und Judd Oslow verlangte.
„Chef, ich hab’s satt, Urlaub zu machen.“
„Heute morgen sahen sie wie eine Leiche aus. Wie lange haben Sie gestern nacht gearbeitet?“
„Halb vier.“
„Irgendwas über Carl Hodges rausgekriegt?“
„Kaum was.“ Ich sah den summenden Hubschraubern und Flugzeugen zu, die hoch über mir am Himmel kreuzten. Ich war nicht sonderlich wild darauf, über mein Versagen in der letzten Nacht zu reden.
„Wo sind Sie jetzt?“
„In einem Anstreicher-Krähennest auf der George-Washington-Brücke.“
„Ist das Ihre Art von Ausruhen – eine Brücke zu besteigen?“
„Ich bin weg von den Leuten. Ich klettere gern.“
„Okay, Ihre Sache. Sie sind in der Nähe des Presbyterian Medical Center. Melden Sie sich dort auf dem Büro der Brigade und füllen Sie die Berichte für die letzte Woche aus. Für ein paar Dinge, die Sie erledigt haben, würden wir Sie möglicherweise gerne bezahlen. Die Auskunftsdame wird Ihnen beim Ausfüllen der Formulare helfen. Sie wird Ihnen sicher gefallen, George. Sie hat nichts gegen Bürokram. Geben Sie ihr die Chance, Ihnen zu helfen.“
Die hübsche Sekretärin mit dem rundlichen Gesicht und dem lockigen Haar freute sich gar nicht, mich wiederzusehen. Sie hörte auf zu lächeln und beendete ihr Gespräch mit den anderen Büroleuten. Dann war sie nur noch geschäftsmäßig. „Ja? Was kann ich für Sie tun, Mr. Sandford?“
Nach dem gestrigen Wirrwarr wollte ich gern, daß sie besser von mir dachte. „Ich schreibe mich S-a-n-f-o-r-d. Meine Postadresse ist die Karmische Bruderschaft auf der Neunten Avenue, zwischen der 17. und 18. Straße. Ich möchte einen Bericht machen, und zwar über eine Arbeit, die ich gestern erledigte, nachdem ich hier war.“
Sie füllte flink den Kopf eines Standardformulars aus und wirkte richtig glücklich. Man muß einem Mädel nur etwas geben, das es für einen erledigen kann.
„Was haben Sie für einen Dienstgrad?“
„Spezialist, Kategorie J. Berater. Bei der Rettungsbrigade.“
„Wen beraten Sie?“
„Ahmed Kosvakatats, nehme ich an. Ich habe für ihn gearbeitet, um ihn aufzuspüren, aber ich konnte nicht mit ihm reden. Er war vermißt.“
Sie hörte mit dem Tippen auf und sah mich unerbittlich an. „Wer erteilte Ihnen den Auftrag zu dieser Tätigkeit, Mr. Sanford?“
„Judd Oslow, der Chef der Rettungsbrigade. Aber ich habe ihn angerufen. Ich rief ihn um zehn Uhr an, und da erzählte er mir, daß Ahmed vermißt wurde. Da fing ich an. Ich war fertig gegen vier.“
Sie tippte überhaupt nichts davon nieder. Sie wurde blaß, biß sich auf die Oberlippe und strahlte schlechte Vibrationen aus. Ich glaube, sie hatte Angst davor, so wütend zu werden, wie sie gerne geworden wäre. Dann sagte sie mit roboterhafter Stimme: „Wen haben Sie zwischen zehn und
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