Der Esper und die Stadt
diese Sektierer-Tagung stattfand und die alle reinkamen, Hummer bestellten und aus der Hand gelesen haben wollten? Wo hast du bloß all die Hummer hergeholt?“ Sie gingen zusammen zur Theke, auf der allerlei Kuchen und Brötchen ausgestellt waren. Ein hübsches Mädchen in einem gestärkten Kittel kam aus der Küche und stellte sich dahinter.
Bessie lachte. Sie begann mit einem nervös klingenden, hellen Gekicher und endete mit einem tiefen „Hoho“, das sich anhörte wie das Gelächter des Weihnachtsmannes. „Und ob ich mich daran erinnere! War das ein Chaos! Ich hing am Telefon und versuchte in zehn Minuten zwanzig Handleser zusammenzukriegen! Du kannst dir sicher vorstellen, wie dankbar ich war, als du diese zwanzig jungen Leute rüberschicktest, die den Leuten dann aus der Hand lasen. Ich war zuerst ungeheuer nervös, aber dann merkte ich, daß sie ihnen wirklich zuhörten. Zuerst dachte ich, du hättest irgendwo eine ganze Zigeunersippe aufgetrieben. Hoho! Ich hatte keine Ahnung, daß es sich um eine Polizeischüler-Klasse aus der Persönlichkeitsanalyse handelte.“
Ich ging zur Tür und auf den Bürgersteig hinaus. Ein paar Minuten später kam Ahmed die Rolltreppe herunter. Wieder nahm er je zwei Stufen mit einem Schritt. Er kam wie eine Rakete zu mir hinaus. „Hier, trag das.“ Er warf mir die Papiertüte mit den türkischen Honigbrötchen zu. Der warme, süße Duft roch herrlich. Ich nahm die Tüte und steckte eine Hand in sie hinein.
„Du sollst sie nur tragen, nicht essen.“ Ahmed lief auf die Treppe der U-Bahn zu, die auf den ersten Untergrund-Gehweg führte.
Ich nahm die Hand aus der Tüte und folgte ihm. Als ich langsam die Treppe hinunterging, verspürte ich ein Schwindelgefühl, obwohl ich nicht zwei, sondern stets nur eine Stufe nahm. Als ich unten ankam, sah Ahmed sich die Schilder an, die in die unterschiedlichsten Richtungen wiesen und bekanntgaben, welches Gleis in welchen Stadtteil führte. Zum ersten Mal sah ich ihn besorgt und unsicher. Er wußte nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte.
„Wir wissen, daß das Opfer weiblich, erwachsen, jünger als Bessie, möglicherweise schwanger und irgendwo in einer Falle sitzt, in der es weder Nahrung noch Wasser gibt“, dachte er laut vor sich hin. „Sie hat Hilfe von Menschen erwartet, die sie liebt. Sie wurde enttäuscht. Jetzt macht der Gedanke an Liebe sie wütend, und sie haßt den Gedanken, daß es irgend jemanden geben könnte, der ihr hilft.“
Ich dachte an Bessies plötzlich krank und eingefallen aussehendes Gesicht, nachdem das Opfer auf ihr geistiges Hilfsangebot eingeschlagen hatte. Daß das Opfer wütend war, schien mir die Untertreibung des Jahres zu sein. Ich erinnerte mich an den wilden, bedrohlichen Himmel und sah, wie die Leute an uns vorbeieilten. Sie waren bleich und ängstlich. Zwei Häschen, die wirklich schlimm aussahen, kamen vorbei. Die eine hielt ihren Magen fest und murmelte etwas von Alka-Seltzer; die andere hatte rotgeränderte Augen, als hätte sie geweint. Kann eine einzige Person in Not dies einer ganzen Stadt voller Menschen antun?
„Wer ist sie, Ahmed?“ fragte ich. „Ich meine, was ist sie überhaupt?“
„Ich verstehe es selber nicht“, sagte Ahmed. Plötzlich überfiel er mich wieder mit dieser Frage und benutzte dabei diese tiefe, hypnotisch klingende Stimme, die mich rückwärts in den schwarzen Wirbel aus Angst vor dem Tode warf. „Wenn du Durst hättest, wenn du sehr durstig wärst und es nur eine Stelle in der Stadt gäbe, an der du einen Schluck kriegen könntest …“
„Ich habe aber keinen Durst.“ Ich versuchte zu schlucken, aber meine Zunge fühlte sich plötzlich geschwollen an. Mein Mund schien ausgetrocknet und mit Sand
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