Der Facebook-Killer
gerechtfertigterweise damit in Verbindung. Er riss sich zusammen und sagte unwirsch: „Hören Sie, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind. Ich kenne Sie nicht. Wenn Sie glauben, mich schon mal gesehen zu haben, irren Sie sich. Das geht vielen so. Ich habe ein Allerweltsgesicht.“ Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Außerdem bin ich Polizist und nicht … und nicht …“ Ihm gingen für einen Moment Luft und Worte aus. „… Literaturprofessor oder so ’n Scheiß. Oder sehe ich etwa so aus?“ Angriffslustig reckte er sein Kinn.
Ihr Lächeln wurde etwas breiter, während sie die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände stützte.
„Dass Sie Polizist sind, weiß ich, Monsieur Fronzac – und ein guter dazu, wenn ich das sagen darf, zumindest in meinen Augen. Wie Sie aussehen, haben Sie eben selbst ganz treffend beschrieben: ein Allerweltsgesicht. Obwohl ich finde, dass die raspelkurzen Haare und der Dreitagebart Ihnen stehen. Auf dem Foto in Ihrer Personalakte waren Sie glattrasiert und hatten so eine Unfrisur, wie jeder zweite französische Beamte.“ Ihr Grinsen war regelrecht entwaffnend.
„Meine Personalakte? Wie kommen Sie an die?“, fragte Mafro entgeistert.
Die blonde Schönheit erhob sich wieder aus ihrem Sessel. Unwillkürlich tat Mafro es ihr gleich.
„Das erzähle ich Ihnen später. Während Sie uns was zu essen machen.“ Sie schnappte sich seinen Arm und runzelte kaum merklich die Stirn. „Aber erst packen wir Sie mal unter die Dusche. Sie stinken nach Alkohol.“
23.12.2010
Mafros Wohnung
21 Rue Falguière, Paris
Eine Stunde später saß er frisch geduscht in einem geringelten Rippshirt, schwarzen Jeans und dicken Wollsocken im kombinierten Wohn-Arbeitszimmer seiner Zwei-Zimmer-Wohnung im Quartier Latin. Drüben in der Küche, die immerhin genug Platz für einen alten Esstisch aus schweren eichenen Holzbohlen bot – das Möbelstück, auf das Mafro mit Abstand am stolzesten in der ganzen Wohnung war – mühte sich seine altersschwache Mikrowelle, deren integrierte Uhr noch immer auf Sommerzeit stand, mit zwei Packungen Tiefkühllasagne ab. Sie waren neben zwei undefinierbaren Fischfilets unbekannter Herkunft, einer angebrochenen Tüte Backofenkroketten und einer uralten Packung Vanilleeis das einzig Essbare gewesen, das Mafros Kühlschrank hergegeben hatte. Seine noch immer unbekannte Chauffeurin, die kurz zuvor zwei Straßen weiter ihren BMW Z3 mit großem Geschick in eine rund zwei Zentimeter zu kurze Parklücke in unmittelbarer Nähe der Université René Descartes – eine Parklücke dort war etwa so selten wie ein Sechser im Lotto – manövriert hatte, hatte bei der Auswahl zwar die Nase gerümpft, aber die Tiefkühlpasta schließlich mit einem undefinierbaren Brummen akzeptiert.
Bis er sich das Haar mit seinem buntscheckigen Lieblingsbadetuch trocken frottierend aus der Dusche getorkelt war – er hatte sich tatsächlich beinahe wie ein neuer Mensch gefühlt –, hatte sie im Chaos seiner Wohnküche einen Korkenzieher und zwei halbwegs saubere, allerdings nicht zueinander passende Gläser gefunden und eine Flasche Côtes du Rhône geöffnet. Sie hatte es sich auf dem einzigen Sessel des Zimmers, einem Erbstück von seiner Großmutter, das er bei einem Polsterer neu mit grünem Brokat hatte beziehen lassen, bequem gemacht, die Beine auf seinen Couchtisch gelegt und in seine Richtung genickt, als er hereinkam, und stellte gerade ihr Glas nach dem ersten Probeschluck wieder ab.
Mafro nickte. „Mögen Sie Côtes du Rhône?“, fragte er, um das kommunikative Eis zu brechen. Immerhin hatte sie auf der gesamten Fahrt hartnäckig geschwiegen.
„Nein“, knurrte sie dann um ihre selbstgedrehte Kippe herum, die sie sich in seiner Abwesenheit angesteckt haben musste, ohne sich einen Deut darum zu scheren, ob ihn das Rauchen in seiner Wohnung störte. „Zumindest den hier nicht. Mehr Farbe als Aroma oder Bukett. Außerdem macht er blaue Lippen. Aber Sie haben nichts Besseres im Haus, soweit ich das auf die Schnelle überblicken konnte, und er passt irgendwie zum Hauptgang.“
Er sah sie irritiert ob so viel Offenheit an.
„Ah … ja“, antwortete Mafro nicht sonderlich intelligent, drehte seinen Schreibtischstuhl – einen kunstledernen Chefsessel vom Leclerc um die Ecke – herum und setzte sich ihr gegenüber.
Er nahm einen viel zu großen Schluck Wein, versuchte vergeblich, durch eine optische Musterung über den Glasrand hinweg aus dieser in seine profanen
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