Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
ruft ihm einer der Männer zu, als er seinen erstaunten Blick bemerkt. Der schwere Duft frisch aufgeworfener Erde. Wann hat er einen so ländlichen Geruch zuletzt eingeatmet? Langsam bereut er, dass er nicht an ein Schloss und eine Kette gedacht hat. Er legt sich den Rahmen des schweren, holländischen Fahrrades über die Schultern und betritt die unterste Treppenstufe zum Hauptgebäude der Universität: ein aus dem Leim geratener Rokokopavillon, helle Steinsäulen, grauer, geriffelter Beton, was ihm aber erst auf den zweiten Blick auffällt. Ein Bau aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich Beton mit falscher Vergangenheit maskierte. Der Oberinspektor, der nie studiert hat, fühlt sich klein und abgewiesen.
Über dem Eingangsportal glänzt die Inschrift: »Der Forschung / Der Lehre / Der Bildung«. Früher wäre Stave das pathetisch vorgekommen. Nun aber, im Angesicht der Trümmer und des Ochsenpfluges vor den Treppen, empfindet er es als ungeheuer ernsthaftes Versprechen.
Das Innere ist düster und zugig, ihn weht ein Geruch nach alten Büchern und Betonstaub an. Er lässt das Rad beim vergebens protestierenden Pförtner in der Loge stehen. Studenten drängen sich an ihm vorbei, als er sich umblickt, um sich zu orientieren: Jungen und Mädchen, in abgewetzten Strickjacken und zerschlissenen Hosen, manche mit Aktentaschen oder Schreibheften in Händen, andere mit Schultornistern. Auffallend vielen Studenten fehlt ein Arm, ein Bein, ein Auge. Gedämpfte, ernsthafte Gespräche, kein Lachen. Niemand beachtet ihn. Ein Kloster, denkt Stave, bevölkert von fanatisch strebsamen Mönchen.
Er muss sich durchfragen, bis ihm jemand einen Hörsaal zeigt, in dem Professor Christian Kitt eine Vorlesung hält: »Tendenzen der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts«. Der Oberinspektor schlüpft hinein. Am Pult ein älterer, hagerer Mann, dunkle Haare, grauer Bart, Nickelbrille. Früher hätte er bei seinem Vortrag vielleicht großformatige Reproduktionen gezeigt oder Lichtbilder an die Wand geworfen, nun bleibt ihm bloß, bei passender Gelegenheit einen zerschlissenen Kunstkatalog in die Höhe zu halten. Stave kann kaum etwas von den Bildern erkennen – was nicht weiter schlimm ist, denn er versteht auch kaum etwas vom Vortrag des Professors. Der Gelehrte benutzt Begriffe, die er noch nie gehört hat. Und selbst nach einer Viertelstunde weiß der Kripo-Beamte nicht, worum es in dieser Vorlesung geht. Doch die etwa zwei Dutzend Studenten schreiben eifrig mit – viele auf alten Rechnungen oder den Rückseiten von Akten, weil sie kein Geld für Notizhefte haben. Der Oberinspektor fragt sich, ob es eine gute Idee ist, diesen Professor verhören zu wollen.
Trotzdem wartet er das Ende der Veranstaltung ab, lässt die Studenten aus dem Hörsaal gehen, ignoriert ihre neugierigen Blicke und stellt sich schließlich dem Forscher vor.
»Ich hätte gerne einige Auskünfte über moderne Künstler und ihre Sammler«, beginnt er.
»Seit 1933 interessiert sich die Polizei für moderne Kunst«, erwidert Kitt, nicht unfreundlich im Ton, doch mit abwartendem Blick. Ein Exilant, vermutet Stave, erst nach 1945 zurückgekehrt.
»Was wissen Sie über Toni Weber?«
»Ich kenne den Namen. Mehr nicht.«
»Das ist alles? Sie sind doch Experte?«
Kitt seufzt und bedenkt ihn mit einem Blick, den Gelehrte für Vollidioten reserviert haben. Der Kripo-Beamte hätte nicht übel Lust, ihn auf der Stelle zu verhaften. »Wissen Sie, was von der Kunst der Moderne noch übrig geblieben ist? Ich meine, in den Köpfen der Studenten? Nichts. Schlimmer: weniger als nichts. Völlig falsche Vorstellungen, vergiftete Vorstellungen. Kann man etwas nachschlagen? Von den 600 000 Bänden unserer Universitätsbibliothek haben zwei Drittel die Bombenangriffe nicht überstanden. Das letzte Drittel ist auch nur das, was die Nazis übrig gelassen haben. Die haben schon zehn Jahre vor den englischen und amerikanischen Fliegern Bücher verbrannt. Wer heute moderne Kunst studieren, gar zu ihr forschen will, der muss alles nachholen. Der muss mit den Meistern beginnen: Munch, van Gogh, Klee, Picasso, Matisse, Dix, Kokoschka, ich könnte Ihnen Dutzende nennen. Erst wenn wir deren Werke wieder erfasst haben, was Jahrzehnte dauern wird, dann können wir uns den minderen Talenten zuwenden.«
»Weber ist also ein minderes Talent?«
»In jedem Stamm gibt es viele Indianer, aber nur wenige Häuptlinge. Es lohnt sich nicht, über die Indianer zu forschen, wenn man nicht
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