Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
bist.« Stave stößt die Worte hervor, hält den Atem an, als habe er einen Stein geschleudert und verfolge nun dessen Flugbahn. Hoffentlich zerstöre ich nichts, fleht er stumm.
Anna blickt aus dem Fenster. Der Regenhimmel ist grau wie der Fluss, die Schauer fallen so dicht, dass die großen Docks von Blohm & Voss auf der anderen Elbseite wie verwaschene Aquarelle wirken. Von irgendwo weht der langgezogene Klagelaut eines Schiffshorns herüber. Stave fällt erst jetzt der ärmliche Geruch im Restaurant auf: alter Fisch, ranziges Fett, kalter Tabak.
»Das Problem ist«, murmelt sie, »dass du unbedingt meine Geschichte erfahren willst. Und dass ich sie unbedingt vergessen will.«
Stave muss an Margarethe denken, die bei einem Bombenangriff in ihrer gemeinsamen Wohnung verbrannte, während er in der Stadt im Einsatz war. An seine Alpträume von Feuer und Hitze. An Karl, der ihm als siebzehnjähriger Kriegsfreiwilliger zum Abschied Verwünschungen entgegenwarf, bevor er mit der Wehrmacht beinahe in den Tod zog. An die endlose Suche nach seinem Sohn auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofes und im Archiv des Suchdienstes. An die Freude und den Schrecken, als Karl eines Tages vor seiner Tür stand. An seine Hilflosigkeit seither. »Ich weiß nicht, ob du mir deine Geschichte erzählen möchtest«, erwidert er behutsam, »aber das eine weiß ich sicher: gleichgültig, wie sehr du deine Geschichte auch vergessen willst – deine Geschichte vergisst dich nicht.«
»Ich bin verheiratet«, sagt sie. Stave versucht ihre Gesichtszüge zu lesen und weiß nicht, ob sie herausfordernd oder flehend sind. Vielleicht beides. »Aber das wirst du schon wissen, das ist dein Beruf.«
»Klaus von Gudow«, murmelt er. »Diplomat. Ich weiß es allerdings noch nicht sehr lange. War ein Zufall.«
»Und diesem Zufall habe ich diese Einladung zum Mittagessen zu verdanken?«
»Jetzt muss ich auch alles wissen. Ich werde sonst verrückt«, gesteht Stave und merkt, wie gequält sich seine Stimme anhört. Gut, dass das Restaurant fast leer ist.
Da beugt sie sich plötzlich über den Tisch und haucht ihm einen Kuss auf die Wange. »Das war, wenn ich es recht bedenke, das schönste Kompliment, das mir je ein Mann gemacht hat.« Anna fingert in einer Tasche ihres Mantels herum – und legt einen goldenen Ehering auf den Tisch. »Meine Geschichte hat mich nicht vergessen, wie du siehst.« Sie blickt aus dem Fenster. »Ich war achtzehn, als ich geheiratet habe. Nicht einmal volljährig. Mein Mann ist zehn Jahre älter. Dass wir heiraten würden, wussten wir schon als Kinder – und unsere Familien wussten es auch, was wichtiger ist, als du dir vielleicht vorstellen kannst.«
»Weil ich ein Bürgerlicher bin, der bei seiner Eheschließung keine dynastischen Rücksichten nehmen muss?«
»Spotte nicht. Weil du keine Familie hast, die uralt ist und riesengroß und sehr geübt darin, sanften Druck auf ihre Mitglieder auszuüben, vor allem die weiblichen.« Sie seufzt. »Ich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich sehr unglücklich war. Mein Mann war Diplomat, wir zogen nach Berlin. Von Ostelbien in die Weltstadt! Als junges Mädchen kann man es schlechter treffen. Wir haben in der Nähe der Friedrichstraße gelebt. Ich habe die Wohnung eingerichtet, Klaus machte Karriere.«
»Eine sehr braune Karriere.«
Anna sieht ihn ernst, fast zornig an. Sie drückt den Arm schützend vor ihren Oberkörper, jene Geste, die er so gut kennt. »Auch wenn es heute absurd klingt, um nicht zu sagen erbärmlich: Ich wusste davon nichts. Mein Mann war Diplomat, studierter Jurist. Ich war stolz auf ihn und seinen Titel, aber von seiner Arbeit habe ich nichts geahnt, ich kümmerte mich auch nicht darum. Er ging morgens ins Ministerium und kam abends wieder nach Hause, wie alle unsere Freunde, wie alle unsere Nachbarn.«
Stave, der nie in der NSDAP gewesen war und der 1933 innerhalb der Kriminalpolizei auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben worden war, hatte bei der »Reichskristallnacht« 1938 tatenlos zugesehen, wie die Synagoge brannte. Später hatte er KZ-Häftlinge bewachen müssen, als die nach schweren Angriffen zu gefährlichen Aufräumarbeiten zwischen die Ruinen geschickt worden waren. Und er hatte nicht verhindern können, dass sein eigener Sohn begeistert bei der HJ mitmachte. »Es gibt viele Menschen, denen man mehr Vorwürfe machen kann als dir«, murmelt er.
»Im Herbst 1943 habe ich Berlin verlassen«, fährt Anna fort. »Klaus hat darauf
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