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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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aber sie sagten, der junge Mann habe anscheinend einen Teil seiner Scheu verloren. Am Vormittag habe er, wie einer der Detektive berichtete, längere Zeit am Telefon mit jemanden gestritten und offenbar angstvoll gegen etwas protestiert und dem unbekannten Anrufer mit Sätzen wie den folgenden geantwortet: »Ich bin sehr müde und muß mich eine Weile ausruhen«, »Ich kann eine Zeitlang niemanden empfangen, Sie müssen mich entschuldigen«, »Bitte schieben Sie wichtige Maßnahmen auf, bis wir zu irgendeinem Kompromiß gelangt sind« oder »Es tut mir sehr leid, aber ich muß erst mal Urlaub von all dem nehmen; wir sprechen uns später«. Danach habe er offenbar nachgedacht und neuen Mut geschöpft, denn er habe heimlich das Haus verlassen, ohne daß jemand ihn gesehen oder gewußt hätte, daß er nicht mehr im Hause war, bis er dann gegen ein Uhr zurückgekommen und wortlos hineingegangen sei. Er sei nach oben gegangen, aber dort habe er es offenbar wieder mit der Angst zu tun bekommen, denn beim Betreten der Bibliothek habe er laut und entsetzt aufgeschrien, doch der Schrei sei bald zu einem erstickten Röcheln abgesunken. Als der Butler jedoch hinaufgegangen sei, um nach dem Rechten zu sehen, sei er mit durchaus entschlossener Miene an die Tür gekommen und habe dem Mann schweigend bedeutet, er solle sich entfernen, und zwar mit einer Gebärde, die den Butler merkwürdigerweise in Furcht und Schrecken versetzt habe. Danach habe er offenbar seine Bücherregale geordnet, denn man habe laute Geräusche wie von fallenden Büchern und knarrenden Dielen gehört; dann sei er wieder herausgekommen und habe sich unverzüglich entfernt. Willett fragte, ob er ihm eine Nachricht hinterlassen habe, wurde aber abschlägig beschieden. Der Butler schien über irgend etwas in Charles' Aussehen und Benehmen merkwürdig beunruhigt zu sein und fragte bekümmert, ob denn viel Hoffnung auf eine Heilung seiner überreizten Nerven bestünde.
    Fast zwei Stunden wartete Dr. Willett vergebens in Charles Wards Bibliothek, betrachtete die staubigen Bücherborde mit den großen Lücken, wo Bücher herausgenommen worden waren, und lächelte grimmig zu der Vertäfelung über dem Kamin hinüber, von wo ein Jahr zuvor noch die verbindlichen Züge des Joseph Curwen milde herabgeschaut hatten. Nach einer Weile zogen die Schatten der Dämmerung herauf, und die Heiterkeit des Sonnenuntergangs wich einem vagen, wachsenden Grauen, das schattengleich vor der Nacht einherflog. Schließlich kam Mr. Ward nach Hause und zeigte sich überrascht und verärgert über die Abwesenheit seines Sohnes, obwohl er soviel unternommen hatte, um ihn bewachen zu lassen. Er hatte nichts von Charles' Verabredung gewußt und versprach Willett, ihn zu benachrichtigen, sobald sein Sohn heimkam. Bevor er dem Doktor gute Nacht wünschte, brachte er seine tiefe Besorgnis über den Zustand seines Sohnes zum Ausdruck und beschwor seinen Besucher, alles zu tun, um dem Jungen sein seelisches Gleichgewicht wiederzugeben. Willett war froh, endlich dieser Bibliothek entronnen zu sein, denn irgend etwas Schreckliches, Unheimliches schien dort umzugehen, als habe das verschwundene Bild ein böses Vermächtnis hinterlassen. Er hatte das Bild nie gemocht; und selbst jetzt noch beschlich ihn beim Anblick der leeren Täfelung trotz seiner starken Nerven ein Gefühl, das ihn den dringlichen Wunsch verspüren ließ, auf dem schnellsten Weg hinaus an die frische Luft zu kommen.
    Am folgenden Morgen erhielt Willett eine Nachricht von Mr. Ward, daß Charles noch immer nicht zu Hause sei. Mr. Ward erwähnte auch, daß Dr. Allen ihn angerufen und ihm mitgeteilt habe, daß Charles für einige Zeit in Pawtuxet bleiben würde und nicht gestört werden dürfe. Dies sei notwendig geworden, weil er, Allen, plötzlich für unbestimmte Zeit verreisen müsse und die Forschungsarbeiten unter Charles' ständiger Aufsicht wissen wolle. Charles lasse grüßen, und es täte ihm leid, falls er durch seine abrupte Sinnesänderung irgendwelche Ungelegenheiten verursacht habe. Bei diesem Telefongespräch hörte Mr. Ward zum erstenmal Dr. Allens Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam, ohne daß er sie hätte einordnen können, und ihn so verwirrte, daß er beinahe so etwas wie Angst in sich aufsteigen fühlte. Angesichts dieser verblüffenden, einander widersprechenden Gerüchte war Dr. Willett ratlos. Der furchtbare Ernst von Charles' Brief war nicht zu übersehen, aber was sollte man davon halten, daß der

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