Der Fall Charles Dexter Ward
Schreiber unmittelbar danach seinen erklärten Vorsätzen zuwidergehandelt hatte? Der junge Ward hatte geschrieben, daß seine Forschungen blasphemisch und bedrohlich geworden seien, die Unterlagen sowie sein bärtiger Kollege um jeden Preis vernichtet werden müßten und er selbst nie wieder an den letzten Schauplatz dieser Unternehmungen zurückkehren würde; doch nun sah es so aus, als habe er all dies vergessen und sei mitten ins Zentrum der Geheimnisse zurückgekehrt. Der gesunde Menschenverstand gebot einem, den jungen Mann seinen Launen zu überlassen, aber ein tieferer Instinkt verhinderte, daß der Eindruck, den der verzweifelte Brief hinterlassen hatte, verwischt wurde. Willett las ihn noch einmal durch, aber der Inhalt wollte ihm nicht so leer und irrsinnig vorkommen, wie man sowohl aufgrund der bombastischen Ausdrucksweise als auch infolge der nicht eingetretenen Verwirklichune hätte annehmen können. Das Grauen, das in ihm lag, war zu tief und zu real und erweckte im Verein mit dem, was der Doktor schon wußte, allzu lebhafte Vorstellungen von Ungeheuerlichkeiten jenseits von Raum und Zeit, als daß man alles mit einer zynischen Erklärung hätte abtun können. Namenlose Schrecknisse waren entfesselt, und mochte man auch noch so wenig gegen sie ausrichten, man mußte bereit Sein, um zu jeder Zeit in jeder Richtung aktiv werden zu können.
Über eine Woche grübelte Dr. Willett über das Dilemma nach, in dem er sich befand, und neigte nach und nach immer mehr dazu, Charles in seinem Bungalow einen Besuch abzustatten. Keiner von Charles' Jugendfreunden hatte es je gewagt, diesen geheimen Schlupfwinkel zu betreten, und selbst sein Vater kannte ihn nur aus gelegentlichen beiläufigen Bemerkungen seines Sohnes; doch Dr. Willett war überzeugt, daß ein direktes Gespräch mit seinem Patienten notwendig war. Mr. Ward hatte kurze, unverbindliche, mit der Maschine geschriebene Nachrichten von seinem Sohn bekommen und erzählt, daß auch seine Frau in Atlantic City nicht mehr erfahren habe. Deshalb entschloß der Doktor sich schließlich zum Handeln und machte sich trotz eines unguten Gefühls aufgrund der alten Legenden um Joseph Curwen und der Warnungen und Enthüllungen Charles Wards unerschrocken auf den Weg zu dem Bungalow auf dem Steilufer über dem Fluß.
Willett war schon vorher einmal aus reiner Neugierde dort draußen gewesen, natürlich ohne das Haus zu betreten oder seine Anwesenheit kundzutun, und kannte deshalb den Weg genau. Als er nun eines Frühnachmittags gegen Ende Februar in seinem kleinen Auto die Broad Street hinausfuhr, kam ihm merkwürdigerweise jene Gruppe entschlossener Männer in den Sinn, die vor 175 Jahren genau dieselbe Straße entlanggegangen waren, mit einem schrecklichen Auftrag, den vielleicht nie jemand verstehen würde.
Die Fahrt durch die verfallenden Außenbezirke der Stadt war kurz, und bald tauchten vor ihm das schmucke Edgewood und das verschlafene Pawtuxet auf. Willett bog rechts in die Lockwood Street ein und fuhr mit seinem Auto auf dieser ländlichen Straße so weit, wie es ging, stieg aus und ging zu Fuß nach Norden weiter, wo das Steilufer über den anmutigen Schleifen des Flusses und der weiten, dunstigen Ebene auf der anderen Seite aufragte. Die Häuser standen hier noch immer recht vereinzelt, und der isolierte Bungalow war nicht zu übersehen, mit seiner Betongarage auf einer Bodenerhebung links vom Hauptgebäude. Er ging mit schnellen Schritten über den verwahrlosten Kiesweg auf das Haus zu, pochte mit kräftiger Faust an die Tür und sprach beherzt mit dem verschlagenen portugiesischen Mulatten, der die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte.
Er müsse, sagte er, sofort Charles Ward in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen. Er würde keine Ausflüchte akzeptieren, und sollte man ihn zurückweisen, so würde er nur dem älteren Ward ausführlich Bericht erstatten. Der Mulatte zögerte noch und stemmte sich gegen die Tür, als Willett sie zu öffnen versuchte, doch der Doktor brachte erneut sein Anliegen vor, diesmal mit lauterer Stimme. Dann kam aus dem Dunkel im Innern ein heiseres Flüstern, das den Doktor bis ins Mark schaudern ließ, obwohl er nicht wußte, weshalb es ihm so furchterregend schien. »Laß ihn rein, Tony«, sagte die Stimme, »wir können genauso gut jetzt miteinander reden.« Aber so verwirrend das Flüstern war, fürchterlicher noch war, was unmittelbar darauf folgte. Die Dielen knarrten, und der Sprecher tauchte aus dem
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