Der Fall Charles Dexter Ward
geblieben sind. Er wurde zusehends bleicher und hagerer als je zuvor und wirkte nicht mehr so selbstsicher, als er Dr. Willett wieder einmal dieselbe uralte Geschichte von bedeutsamen Forschungen und zukünftigen Enthüllungen erzählte. Willett fing ihn oft im Hause seines Vaters ab, denn der ältere Ward war zutiefst beunruhigt und verwirrt und wünschte, daß sein Sohn unter so strenge Aufsicht genommen würde, wie es sich bei einem so verschlossenen und unabhängigen Erwachsenen irgend bewerkstelligen ließ. Der Doktor beharrt noch immer darauf, daß der junge Mann selbst zu diesem späten Zeitpunkt noch geistig normal gewesen sei, und führt zum Beweis dieser Behauptung zahlreiche Gespräche an.
Im Laufe des Septembers ließ der Vampirismus nach, aber im darauffolgenden Januar wäre Ward beinahe in ernstliche Schwierigkeiten geraten. Schon seit einiger Zeit hatte man über die nächtliche Ankunft und Abfahrt von Lastkraftwagen bei dem Bungalow Vermutungen angestellt, als durch eine unvorhergesehene Störung wenigstens in einem Fall bekannt wurde, welche Art Fracht diese Lastwagen beförderten. An einer einsamen Stelle in der Nähe von Hope Valley hatte sich einer der häufigen Überfälle durch Straßenräuber ereignet, die in dem Lastwagen Spirituosen zu finden hofften, aber diesmal sollten die Wegelagerer selbst die böseste Überraschung erleben, denn als sie die erbeuteten langen Kisten aufbrachen, machten sie eine grausige Entdeckung; so grausig war der Inhalt, daß die Angelegenheit in der Unterwelt die Runde machte. Die Räuber hatten ihren Fund in aller Eile verscharrt, aber als die Staatspolizei Wind davon bekam, lief eine gründliche Untersuchung an. Ein kurz zuvor festgenommener Landstreicher, dem man Straffreiheit für alle anderen Vergehen zusicherte, erklärte sich schließlich bereit, eine Gruppe berittener Polizisten an die fragliche Stelle zu führen; und was man dort in dem notdürftigen Versteck fand, war im höchsten Grade entsetzlich und schändlich. Es würde allen nationalen - ja sogar internationalen - Geboten der Schicklichkeit hohnsprechen, wollte man an die Öffentlichkeit dringen lassen, was diese fassungslosen Männer ausgruben. Es gab keinen Zweifel, nicht einmal für diese alles andere als gebildeten Polizisten; und in fieberhafter Aufregung wurde ein Telegramm nach dem anderen nach Washington geschickt.
Die Kisten waren an Charles Ward in seinem Bungalow in Pawtuxet adressiert, und Beamte der Staats- und Bundespolizei unterzogen ihn unverzüglich einem unnachsichtigen und ernsten Verhör. Sie fanden ihn bleich und verstört mit seinen beiden Gefährten und bekamen von ihm anscheinend eine plausible Erklärung, die sie von seiner Unschuld überzeugte. Er habe bestimmte anatomische Versuchsobjekte für ein Forschungsprogramm benötigt, dessen Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit jeder bezeugen könne, der ihn in den letzten zehn Jahren gekannt habe, und habe die erforderliche Anzahl geeigneter Objekte bei Agenten bestellt, wobei er so legal gehandelt zu haben glaube wie nach den Umständen überhaupt möglich. Von der Identität der Objekte habe er keine Ahnung gehabt, und er zeigte sich entsprechend schockiert, als die Inspektoren andeuteten, welch grauenhafte Folgen sich für die Öffentlichkeit und das Ansehen des Landes ergeben hätten, wäre die Sache ruchbar geworden. Seine Aussagen wurden von seinem bärtigen Kollegen Dr. Allen uneingeschränkt bestätigt, dessen merkwürdig hohle Stimme noch überzeugender klang als sein eigenes nervöses Gestammel. Zu guter Letzt blieb den Beamten nichts anderes übrig, als sich die New Yorker Adresse zu notieren, die Charles ihnen angab, aber die darauf sich gründende Untersuchung verlief ergebnislos. Der Ordnung halber soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Objekte eiligst und in aller Stille an ihren gebührenden Platz zurückgebracht wurden und die Öffentlichkeit nie von der blasphemischen Schändung erfahren wird.
Am 9. Februar 1928 erhielt Dr. Willett einen Brief von Charles Ward, dem er außerordentlich viel Bedeutung beimißt und über den er oft mit Dr. Lyman gestritten hat. Dr. Lyman glaubt, der Brief enthalte schlüssige Beweise für einen fortgeschrittenen Fall von Dementia praecox, Willett dagegen sieht in ihm die letzte völlig normale Äußerung des unglückseligen jungen Mannes. Er hebt besonders den normalen Stil hervor, der zwar Hinweise auf eine Nervenzerrüttung enthält, trotzdem aber eindeutig Wards eigener Stil ist.
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