Der Fall Charles Dexter Ward
muß mich bei ihm für alles Schlechte entschuldigen, das ich überihn gesagt habe. Ich wollte, ich wäre nicht gezwungen, im Augenblick auf seine Dienste zu verzichten, doch er mußte wichtigen Pflichten an einem anderen Ort nachkommen. Sein Eifer in all diesen Dingen ist dem meinen ebenbürtig, und ich glaube, als ich vorübergehend Angst vor der Arbeit hatte, hatte ich auch Angst vor ihm als meiner größten Hilfe bei dieser Arbeit.«
Ward machte eine Pause, und der Doktor wußte nicht, was er sagen oder denken sollte. Er kam sich beinahe töricht vor angesichts dieser ruhigen Widerlegung des Briefes; dennoch blieb die Tatsache bestehen, daß das eben Gehörte sonderbar, fremd und zweifellos dem Wahnsinn entsprungen war, wogegen der Brief auf tragische Weise natürlich und für den Charles Ward charakteristisch gewesen war, den er kannte. Willett versuchte jetzt, das Gespräch auf frühere Begebenheiten zu lenken und dem jungen Mann einige vergangene Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, um die gewohnt vertraute Atmosphäre zwischen ihnen beiden wiederherzustellen; doch damit erzielte er nur höchst groteske Ergebnisse. Genauso erging es später allen Nervenärzten. Wichtige Bereiche seiner Erinnerung, hauptsächlich solche, die die Gegenwart und sein persönliches Leben betrafen, waren auf unerklärliche Weise ausgelöscht worden; dagegen war all das in den Jugendjahren angesammelte Wissen über vergangene Dinge aus einem tiefen Unterbewußtsein heraufgequollen und hatte das Zeitgenössische und Individuelle verdrängt. Es war unnormal und unheimlich, wie gut der junge Mann über längst vergangene Dinge Bescheid wußte, und er gab sich alle Mühe, dieses Wissen zu verbergen. Wenn Willett auf irgendein Lieblingsthema der Forschungen seiner Jugendzeit zu sprechen kam, verriet Charles oft durch puren Zufall ein Detailwissen, wie es eigentlich kein Sterblicher besitzen konnte, und der Doktor schauderte jedesmal, wenn er eine dieser Anspielungen ganz beiläufig einflocht.
Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn jemand so genau darüber Bescheid wußte, wie dem fetten Sheriff die Perücke herunterfiel, als er sich über die Rampe beugte, bei der Theateraufführung in Mr. Douglass' Histrionick Academy in der King Street, am elften Februar 1762, der auf einen Donnerstag fiel; oder darüber, wie die Schauspieler den Text von Steeles »Schüchternem Liebhaber« so stark verstümmelt hatten, daß man fast froh war, als die von den Baptisten beherrschte Stadtverwaltung das Theater vierzehn Tage später schloß. Daß Thomas Sabins Kutsche nach Boston »verdammt unbequem« war, konnte man sicherlich alten Briefen entnehmen; aber welcher normale Altertumsforscher hätte wissen können, daß das Quietschen von Epenetus Olneys neuem Aushängeschild (das mit der prunkvollen Krone, das er sich zulegte, nachdem er seine Taverne in »Kaffeehaus zur Krone« umbenannt hatte aufs Haar den ersten Noten des neuen Jazz-Stückes glich, das sämtliche Radios in Pawtuxet spielten?
Ward ließ sich jedoch nicht lange auf diese Art ausfragen. Moderne und persönliche Gesprächsthemen wischte er in Bausch und Bogen vom Tisch, während er sich im Hinblick auf vergangene Ereignisse bald höchst gelangweilt zeigte. Es war ihm deutlich genug anzumerken, daß er lediglich seinen Besucher so weit zufriedenstellen wollte, daß dieser gehen und ihn fortan in Ruhe lassen würde. Deshalb bot er auch Willett an, ihm das ganze Haus zu zeigen, und erhob sich sogleich, um den Doktor durch alle Zimmer vom Keller bis zum Boden zu führen. Willett sah sich gründlich um, stellte aber fest, daß die wenigen und überdies trivialen Bücher, die zu sehen waren, niemals dieselben sein konnten, die Charles aus seinen Regalen entfernt hatte, und daß das spärlich eingerichtete angebliche »Laboratorium« ein Bluff von der primitivsten Sorte war. Offensichtlich befanden sich Labor und Bibliothek in anderen Räumen, doch wo diese lagen, konnte Willett sich nicht vorstellen. In dem Bewußtsein, daß seine Suche nach Dingen, die er nicht näher bezeichnen konnte, im Grunde erfolglos verlaufen war, kehrte Willett noch vor Anbruch der Nacht zurück und erzählte dem älteren Ward alles, was sich abgespielt hatte. Sie stimmten darin überein, daß der junge Mann eindeutig seinen Verstand verloren habe, beschlossen aber, vorderhand keine drastischen Schritte zu unternehmen. Vor allem durfte Mrs. Ward auf keinen Fall mehr erfahren, als sie ohnehin aus den getippten
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