Der Fall Charles Dexter Ward
sich auf seiner Brust jetzt ein großer schwarzer Leberfleck befand, der früher nicht dagewesen war, so daß Willett sich fragte, ob Charles wohl irgendwann einmal an einer jener unheimlichen nächtlichen Zusammenkünfte an wilden, einsamen Orten teilgenommen hatte, bei denen der Sage nach die Anwesenden mit einem »Hexenmal« gebrandmarkt wurden. Dem Doktor wollte nicht die Abschrift jenes Protokolls eines Hexenprozesses in Salem aus dem Sinn, die Charles ihm vor langer Zeit einmal gezeigt hatte und die folgendermaßen lautete: »Mr. G. B. hat jenes Nachts Bridget S., Jonathan A., Simon 0., Deliverance W., Joseph C., Susan P., Mehi-table C. und Deborah B. mit dem Teufel seinem Zeichen gebranntmarcket.« Auch Wards Gesicht beunruhigte ihn zutiefst, bis ihm schließlich aufging, was daran so schrecklich war. Über dem rechten Auge des jungen Mannes war etwas, das er nie zuvor bemerkt hatte -eine kleine Narbe oder Vertiefung, genau wie die auf dem inzwischen zu Staub zerfallenen Porträt des alten Joseph Curwen, vielleicht ein Überbleibsel von irgendeiner gräßlichen rituellen Impfung, der sich beide auf einer bestimmten Stufe ihrer okkulten Entwicklung unterzogen hatten. Während Ward selbst allen Ärzten der Heilanstalt Rätsel aufgab, zensierte man streng die gesamte Post, die an ihn oder an Dr. Allen adressiert war; Dr. Allens Post wurde auf Wards Wunsch ebenfalls ins Haus seiner Eltern zugestellt. Willett hatte vorhergesagt, daß man kaum etwas finden würde, weil alle wichtigen Nachrichten bisher wahrscheinlich durch Boten überbracht worden waren; doch gegen Ende März traf ein Brief für Dr. Allen aus Prag ein, der sowohl dem Doktor als auch dem Vater viel zu denken gab. Er war in einer sehr verschnörkelten, altertümlichen Handschrift abgefaßt, und obwohl der Absender mit Sicherheit kein Ausländer war, wies der Text fast dieselben einzigartigen Abweichungen vom modernen Sprachgebrauch auf wie die Sprache des jungen Ward selbst. Der Brief lautete folgendermaßen:
11. Februar 1928 Kleinstraße 11 Prag, Altstadt Bruder in Almonsin-Metraton! Am heutigen Tage erhielt ich Euren Bericht darüber, was aus den Saltzen kam, welche ich Euch gesandt hatte. Es war falsch, und das bedeutet ohne Zweifel, daß die Grabsteine vertauscht worden waren, als Barnabus mir das Objekt verschaffte. Solches trägt sich oft zu, was Euch sicher bekannt ist. Denket nur an jenes Ding, welches Ihr anno 1769 vom King's Chapell-Friedhof bekommen habet, oder jenes aus dem Alten Kirchhof anno 1690. Ich bekam ein solches Ding aus Ägypten vor 75 Jahren, von welchem die Narbe herrühret, die der Junge an mir anno 1924 gesehen hat. Wie ich Euch schon vor langer Zeit sagte, erwecket nichts, was Ihr nicht austreiben könnet, sei es aus todten Saltzen oder aus den äußeren Sphären. Haltet die Worte des Gegenzaubers allzeit bereit und stehet nicht an, Euch zu vergewissern, so Ihr zweifelt. Wen Ihr habet. Die Steine sind heutigentags in neun von zehn Friedhöfen alle vertauscht. Man ist nie sicher, bevor man nicht die Frage gestellt hat. Ich habe heute von H. gehört, welcher durch die Soldaten in Bedrängniß geraten ist. Er ist wahrscheinlich betrübt darüber, daß Transsilvania von Ungarn an Rumänien übergegangen ist, und würde seinen Sitz wechseln, wäre das Schloß nicht voll der Dinge, welche wir kennen. Doch davon hat er Euch sicherlich geschrieben. In meiner nächsten Sendung wird sich etwas aus einem Hügelgrab im Osten befinden, worüber Ihr sehr frohlocken werdet. Mittlerweile vergesset nicht, daß ich B. F. haben möchte, soferne Ihr ihn irgend für mich beschaffen könnet. Ihr kennet G. in Philadelphia besser als ich. Holet ihn Euch zuerst, wenn Ihr wollet, doch behandelt ihn nicht so hart, daß er danach schwierig ist, denn ich muß am Ende zu ihm sprechen. Yogg-Sothoth Neblod Zin Simon 0. An Mr. J. C. in Providence Mr. Ward und Dr. Willett hielten in äußerster Bestürzung inne, als sie dieses offenkundige Zeugnis schieren Wahnsinns zu Gesicht bekamen. Nur ganz allmählich dämmerte ihnen, was der Brief wirklich bedeutete. Der abwesende Dr. Allen - und nicht Charles Ward - war also mittlerweile der führende Geist in Pawtuxet geworden? Das mußte die Erklärung für die wilde Entschlossenheit in dem letzten, verzweifelten Brief des jungen Mannes sein. Und wieso wurde der bärtige Fremde mit der Brille in der Adresse als »Mr. J. C.« bezeichnet? Die logische Schlußfolgerung lag auf der Hand, doch irgendwo hatte jede
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