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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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Fuß ein senkrechter zylindrischer Schacht mit Betonwänden und einer eisernen Leiter war; in dieser Höhe schien der Schacht auf eine alte Steintreppe zu stoßen, die ursprünglich etwas südlich von dem derzeitigen Gebäude an die Erdoberfläche gekommen sein mußte. Willet gibt freimütig zu, daß ihn der Gedanke an die alten Legenden um Curwen einen Augenblick davon abhielt, allein in diesen übelriechenden Abgrund hinunterzusteigen. Er mußte an das denken, was Luke Fenner über jene letzte schaurige Nacht berichtet hatte. Doch dann gewann sein Pflichtgefühl die Oberhand, und er begann den Abstieg, in der Hand einen Koffer, für den Fall, daß er irgendwelche Papiere von höchster Bedeutung finden sollte. Langsam, wie es einem Mann seines Alters anstand, kletterte er die Leiter hinunter und erreichte die glitschigen Treppenstufen. Das war uraltes Mauerwerk, wie er im Licht der Taschenlampe feststellte, und an den triefenden Mauern sah er das muffige Moos von Jahrhunderten. Tief und tiefer wand die Treppe sich hinab, nicht in Spiralen, sondern in drei abrupten Krümmungen. So eng war der Durchlaß, daß zwei Menschen kaum aneinander vorbeigekommen wären. Er hatte etwa dreißig Stufen gezählt, als ein sehr schwaches Geräusch an sein Ohr drang; und von da an fühlte er sich nicht mehr in der Lage weiterzuzählen.
    Es war ein gottloses Geräusch; einer jener tiefen, tückischen Ausbrüche der Natur, die nicht sein sollen. Ihn ein dumpfes Wimmern, ein verzweifeltes Heulen, ein hoffnungsloses Jaulen vielstimmiger Qual und geschundenen, geistlosen Fleisches zu nennen, würde bedeuten, seine kennzeichnende Abscheulichkeit und seine seelenverwirrenden Obertöne zu unterschlagen. War es das, worauf Ward an dem Tag, da man ihn fortschaffte, gelauscht hatte? Das Geräusch war das fürchterlichste, das Willett je vernommen hatte, und es ertönte immer wieder, aus keiner bestimmten Richtung, als der Doktor den Fuß der Treppe erreicht hatte und den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über hohe Korridorwände gleiten ließ, die zyklopisch überwölbt und von zahllosen schwarzen Bogengängen durchbrochen waren. Die Halle, in der er stand, war bis zum Scheitelpunkt des Gewölbes vielleicht vierzehn Fuß hoch und zehn oder zwölf Fuß breit. Der Fußboden bestand aus großen, unregelmäßig gebrochenen Steinplatten, Wände und Decke aus behauenen Quadern. Die Länge der Halle konnte er nicht ermessen, denn sie erstreckte sich vor ihm endlos in die Finsternis. Manche Bogengänge hatten Türen im alte Kolonialstil, mit sechs Paneelen, andere waren türlos. Die Furcht niederkämpfend, die der Gestank und das Geheul ihm einflößten, begann Willett, diese Bogengänge einen nach dem anderen zu untersuchen; dahinter lagen Räume mit gemauerten Kreuzgewölben, alle von mittlerer Größe und offenbar bizarrem Verwendungszweck; in den meisten befanden sich Feuerstellen, und es wäre eine interessante Aufgabe für einen Ingenieur gewesen, die Abzugsschächte für diese Kamine zu suchen. Nie zuvor oder danach hatte Willett' solche Instrumente oder Andeutungen von Instrumenten erblickt, wie sie hier, unter dem alles bedeckenden Staub und den Spinnweben von anderthalb Jahrhunderten verborgen, allenthalben herumlagen, in vielen Fällen offenbar zerstört, möglicherweise bei jenem lange zurückliegenden Überfall. Denn viele der Kammern schien nie der Fuß eines modernen Menschen betreten zu haben, und sie stammten offenbar aus den frühesten Phasen der Experimente von Joseph Curwen. Schließlich gelangte er in einen Raum, der anscheinend in jüngerer Zeit eingerichtet oder doch zumindest noch vor kurzem bewohnt worden war. Hier gab es Ölöfen, Bücherregale und Tische, Stühle und Schränkchen, und einen Schreibtisch, auf dem hohe Stapel antiker und auch zeitgenössischer Schriften lagen. Kerzen und Öllampen standen an mehreren Stellen, und als er eine Schachtel Zündhölzer fand, zündete Willett einige davon an.
    In dem helleren Lichtschein schien es ihm, als handle es sich bei diesem Raum um nichts anderes als das letzte Arbeits- oder Bibliothekszimmer von Charles Ward. Viele der Bücher hatte der Doktor schon einmal gesehen, und ein Großteil des Mobiliars stammte offensichtlich aus dem Elternhaus in der Prospect Street. Hier und da sah er einen Gegenstand, den er gut kannte, und dieses Gefühl der Vertrautheit wurde so stark, daß er fast den Gestank und das Geheul vergessen hätte, obwohl beides hier noch deutlicher war als am Fuß

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