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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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zwischen den unteren Knöpfen sein Unterhemd frei. Er sah auf Collinis Brust und sprach ins Leere: »So, nun wollen wir mal.«
    Collini und der Wachtmeister gingen nebeneinander, aber bevor sie das erste Gitter auf dem Gang erreichten, geschah etwas Merkwürdiges. Collini blieb einfach mitten im Flur stehen, er schien nachzudenken. »Was ist denn jetzt?«, fragte der Wachtmeister. Collini antwortete nicht, er stand einfach regungslos da und sah fast eine Minute auf die Kappen seiner Schuhe. Dann holte er Luft, drehte sich um und ging zurück zu Leinens Besucherzelle. Der Wachtmeister zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Ohne zu klopfen, öffnete Collini die Tür. »Herr Anwalt«, sagte er. Leinen packte gerade seine Sachen zusammen und sah überrascht zu ihm hoch. »Herr Anwalt, ich weiß, dass es nicht einfach für Sie ist. Es tut mir leid. Ich wollte mich nur bedanken.« Collini nickte Leinen zu, eine Antwort schien er nicht zu erwarten. Er drehte sich um und ging den Gang wieder runter, breitbeinig und ohne Hast.Leinen wollte zurück zu dem Ausgang für Anwälte. Er ging in die falsche Richtung, bis eine Beamtin ihn aufhielt und ihm den Weg erklärte. Dann musste er vor der Panzerglastür ein paar Minuten warten, bis sich die Schleuse öffnete. Der Putz über der Tür war abgeplatzt. Er sah den Wachtmeistern zu, die Ausweise kontrollierten und Namen in Kladden eintrugen. Hier, wo die Männer in ihren Zellen saßen, wo sie auf Strafe oder Freiheit warteten, war die Welt eng. Hier gab es keine Professoren, keine Lehrbücher, keine Diskussionen. Alles war ernst und endgültig. Er konnte versuchen, die Pflichtverteidigung wieder loszuwerden. Er musste Collini nicht verteidigen, der Mann hatte seinen Freund getötet. Es war leicht, die Sache zu beenden, jeder würde es verstehen.
    Draußen nahm er ein Taxi und fuhr nach Hause. Der dicke Bäcker saß auf einem der Holzstühle vor seinem Laden unter einem Sonnenschirm.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Leinen.
    »Es ist heiß«, sagte der Bäcker. »Aber drinnen ist es noch heißer.«
    Leinen setzte sich, kippte den Stuhl zurück an die Wand und blinzelte in die Sonne. Er dachte an Collini.
    »Und wie geht es Ihnen?«, fragte der Bäcker.
    »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    »Was ist das Problem?«
    »Ich weiß nicht, ob ich einen Mann verteidigen soll. Er hat einen anderen Mann getötet, den ich gut kannte.«
    »Sie sind doch Rechtsanwalt.«
    »Hm …« Leinen nickte.
    »Wissen Sie, jeden Morgen um fünf Uhr ziehe ich den Rollladen hoch, mache das Licht an und warte auf den Kühlwagen aus der Fabrik. Ich schiebe die Teiglinge in den Konvektomaten und verkaufe ab sieben Uhr den ganzen Tag das Zeug, das geliefert wurde. An den schlechten Tagen sitze ich drin, an den guten Tagen hier in der Sonne. Ich würde lieber richtiges Brot machen in einer richtigen Bäckerei mit richtigen Geräten und richtigen Zutaten. Aber so ist das halt nicht.«
    Eine Frau mit einem Dalmatiner ging an ihnen vorbei in den Laden. Der Bäcker stand auf und folgte ihr. Nach ein paar Minuten kam er zurück und brachte zwei Gläser mit Wasser und Eis.
    »Verstehen Sie, was ich meine?«, fragte der Bäcker.
    »Nicht ganz.«
    »Vielleicht habe ich irgendwann wieder eine ordentliche Bäckerei. Ich hatte eine, aber ich habe sie bei der Scheidung verloren. Jetzt arbeite ich hier, und mehr gibt es nicht. So einfach ist das.« Er trank das Glas in einem Zug leer und zerbiss einen Eiswürfel.»Sie sind Rechtsanwalt, Sie müssen tun, was Rechtsanwälte tun.«
    Sie saßen im Schatten und sahen den Passanten zu. Leinen dachte an seinen Vater. In dessen Welt schien alles einfach und klar, es gab keine Geheimnisse. Der Vater hatte versucht, ihm auszureden, Strafverteidiger zu werden. Das sei kein Beruf, in dem man anständig bleiben könne, dafür sei alles zu kompliziert, hatte er gesagt. Leinen erinnerte sich an eine Entenjagd im Winter. Der Vater hatte geschossen, eine Stockente war hart auf das Eis des Weihers geschlagen. Der Hund seines Vater war noch jung gewesen, er war losgelaufen, ohne dass er das Zeichen bekommen hatte. Er wollte die Ente apportieren. Das Eis war in der Mitte des Weihers dünn, der Hund brach ein, aber er gab nicht auf. Er schwamm durch das eiskalte Wasser und brachte die Ente ans Ufer. Ohne ein Wort zu sagen, zog der Vater seine Jacke aus und rieb den Hund mit dem Innenfutter trocken. Er trug ihn in der Jacke nach Hause. Zwei Tage saß der Vater mit dem jungen Hund auf den

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