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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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nach Ihnen erkundigt, Leinen.«
    »Wirklich?«
    »Zwei Prädikatsexamen, der Beste des Jahrgangs im Strafrecht, Assistent am Lehrstuhl für Strafprozessrecht an der Humboldt-Universität, fünfzehn Veröffentlichungen in juristischen Zeitungen.« Mattinger zog an der Zigarre. »Ich habe sie alle gelesen, einige sind wirklich erstklassig.«
    »Vielen Dank.«
    »Sie hatten Angebote, an der Uni zu bleiben oderins Richteramt berufen zu werden. Beides haben Sie ausgeschlagen. Sie wollten unbedingt Anwalt sein. Ihr Professor hält Sie für einen brillanten Kopf, aber er sagte auch, Sie seien eigensinnig und stur.« Mattinger lachte.
    Leinen lachte mit, aber es war ihm unangenehm. »So etwas erzählt er Ihnen?«
    »Ihr Professor und ich sind seit hundert Jahren befreundet. Ich weiß ganz gerne, mit wem ich es zu tun habe.«
    Die Sekretärin brachte Kaffee und Wasser. Sie sprachen über Berlin und Moabit, kleine Geschichten von Richtern und Staatsanwälten. Leinen sah Mattinger dabei zu, wie er den Rauch in die Luft blies. Allmählich entspannte er sich.
    »Und, wie haben Sie sich entschieden, Leinen? Werden Sie Collini verteidigen?«
    »Ich bin noch nicht sicher. Ich war eben bei der Obduktion, es war grauenhaft.«
    »Ja, das ist es immer. Man darf den Toten nicht als Menschen sehen. Auf dem Tisch ist er nur ein wissenschaftliches Objekt. Wenn man das einmal verstanden hat, wird es sogar interessant. Aber ganz schafft man es wohl nie.«
    Leinen betrachtete Mattinger. Seine Haut war gebräunt, die Stirn tief von quer- und senkrecht verlaufenden Falten durchzogen, Krähenfüße in seinenAugenwinkeln, die heller waren. Leinen hatte irgendwo gelesen, dass Mattinger trotz seiner Behinderung vor ein paar Jahren alleine von Hamburg nach Südamerika gesegelt war.
    »Jetzt noch einmal. Wenn Sie es doch machen, wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?«
    »Schlecht. Blutspuren an seiner Kleidung, Schmauchspuren an seinen Händen, seine Fingerabdrücke auf Waffe und Patronenhülsen, auf dem Schreibtisch und dem Bettgestell. Er hat selbst die Polizei anrufen lassen und saß bis zu seiner Festnahme in der Lobby des Hotels. Ein anderer möglicher Täter ist nicht in Sicht. Also … eine Verteidigung auf Freispruch wird es wohl nicht werden.«
    »Vielleicht kommen Sie von dem Mordvorwurf runter, und es wird nur ein Totschlag.«
    »Soweit ich es verstanden habe, wurde Hans Meyer von hinten erschossen. Das spricht für einen Mord. Aber ich weiß noch zu wenig. Es kommt darauf an, was Collini sagt. Und ob er aussagt.«
    »Und das Motiv? In den Zeitungen steht, dass man nichts über das Motiv weiß.« Mattinger drehte sich plötzlich zu Leinen und sah ihn direkt an.
    Seine Augen sind hypnotisch, dachte Leinen. »Das stimmt, ich weiß auch nichts. Hans Meyer war ein durch und durch anständiger Mann. Ich habe keine Ahnung, warum ihn jemand erschießen wollte.«
    »Ein anständiger Mann, ja?« Mattinger wandte sich wieder ab. »Gibt’s selten. Ich bin jetzt vierundsechzig, und ich habe nur zwei anständige Männer in meinem Leben kennengelernt. Der eine ist schon seit zehn Jahren tot und der andere ist Mönch in einem französischen Kloster. Glauben Sie mir, Leinen, die Menschen sind nicht schwarz oder weiß … Sie sind grau.«
    »Klingt wie ein Kalenderspruch«, sagte Leinen.
    Mattinger lachte. »Wenn man älter wird, werden die Kalendersprüche immer wahrer.«
    Die beiden Männer tranken Kaffee und hingen ihren Gedanken nach.
    »Heute ist es zu spät«, sagte Mattinger nach einer Weile. »Aber morgen sollten Sie zu Ihrem Mandanten gehen und ihn fragen, ob er von Ihnen verteidigt werden will.«
    Leinen wusste, dass der alte Anwalt recht hatte. Sein Mandant saß seit Tagen im Gefängnis und er hatte ihn noch nicht einmal gefragt, warum er Hans Meyer getötet hatte. Dann merkte er, wie er fast einnickte. »Verzeihen Sie bitte«, sagte er. »Ich muss nach Hause, ich habe die ganze Nacht gearbeitet und bin wirklich übermüdet.«
    Mattinger stand auf und brachte Leinen zur Tür. Leinen ging über die breiten Stufen des Gründerzeithauses nach unten, roter Sisalteppich, die Wändegrüner Marmor. Auf dem letzten Absatz drehte er sich nochmals um, er hatte die Tür der Kanzlei nicht ins Schloss fallen hören. Mattinger stand noch immer oben im Türrahmen und sah ihm nach.

8
    Das »Königliche Untersuchungsgefängnis« war 1877 gebaut worden und wurde seitdem immer wieder modernisiert. Ein roter Backsteinbau, drei Etagen, die sternförmig um eine runde

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