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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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er sich. Er blieb höflich und ruhig, nur auf Leinens Fragen nach seinem Motiv schwieg er. Obwohl Leinen ihm immer wieder erklärte, dass so keine sinnvolle Verteidigung möglich sei, blieb er stumm oder sagte manchmal, dass niemand mehr etwas ändern könne.
    Mattinger und Leinen trafen sich oft abends nochfür eine Stunde auf dem Balkon der Kanzlei. Der alte Anwalt rauchte seine Zigarren und erzählte von den großen Strafverfahren der Siebzigerjahre. Leinen hörte ihm gerne zu. Über Collinis Verfahren sprachen sie nicht.

9
    Zwei Tage nachdem die Anklage in der Kanzlei Leinens eingegangen war, rief Johanna an. Sie klang fremd, als sie sagte, sie müssten sich unterhalten, ob er nach München kommen könne. Leinen fuhr die Strecke von Berlin nach München mit dem alten Mercedes, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Er parkte den Wagen vor dem Vier-Jahreszeiten-Hotel auf der Maximilianstraße, die Firma hatte dort für Gäste ständig zwei Zimmer gebucht, nach vorne, der teure Blick.
    Am Nachmittag war das Treffen in der Repräsentanz der Meyer-Maschinenwerke. Der Konferenzraum, der große ovale Tisch aus Nussbaum, die grünen Vorhänge – das alles kannte er. Als Kind war er mit Meyer oft hier gewesen. Er hatte an diesem Tischgesessen, gelesen und darauf gewartet, dass ihn der alte Herr wieder abholte. Jetzt saß Johanna dort, wo ihr Großvater sonst gesessen hatte. Er ging zu ihr und küsste sie auf die Wangen. Sie war ernst und sah ihn nicht an. Niemand rührte die ordentlich geschichteten Plätzchen auf den Porzellantellern an.
    Der Justiziar war ein kleiner Mann mit hektischen Bewegungen, seine Manschettenknöpfe klackten gegen die Tischplatte, während er redete. Nach fünf Minuten war Leinen klar, dass der Termin sinnlos war. Der Justiziar wusste nichts. Er erklärte, man habe sogar die Archive der Firma durchgesehen, aber nichts gefunden, nicht einmal eine Rechnung von oder an einen Collini. Der Justiziar sagte immer weiter Sätze, die in solchen Besprechungen immer gesagt werden: »Da bin ich ganz bei Ihnen«, »Das entscheiden wir zeitnah« und »Wir bleiben in Kontakt«. Er hatte Leinen nur eingeladen, weil er wissen wollte, was die Verteidigung plante, und als er verstand, dass Leinen so ratlos war wie er selbst, war das Gespräch schnell beendet.
    Leinen ging über die Straße ins Hotel. Sein Gepäck stand bereits im Zimmer. Er zog sich aus und ging ins Bad. Er duschte so heiß, dass es schmerzte. Langsam entspannte er sich. Als er nackt ins Zimmer zurückkam,stand Johanna vor dem Fenster, sie musste einen zweiten Schlüssel haben. Sie hatte einen der Vorhänge einen Spalt aufgezogen und sah auf die Straße, ein Schattenriss vor blaugrünem Himmel. Schweigend trat er hinter sie, schweigend lehnte sie sich gegen ihn, ihre Haare auf seiner Brust. Er legte seine Arme um sie, sie streichelte seine Hände. Draußen hatte es geschneit, die Autos glitten lautlos vorbei, das Dach der Straßenbahn war weiß. Irgendwann zog er den Reißverschluss ihres Kleids auf, streifte es von ihren Schultern und öffnete den BH. Unten, aus dem Geschäft gegenüber, kam ein Mann mit seinen Einkäufen, er rutschte aus, fing sich, musste die Tüten loslassen, kleine orangene Schachteln fielen in den Schnee. Caspar küsste ihren Nacken, ihr Hals war warm, sie nahm seine Hände und presste sie auf ihre kleinen Brüste. Sie griff hinter sich und begann ihn zu massieren. Der Mann auf der Straße sammelte die Päckchen wieder ein und winkte ein Taxi heran. Johanna drehte sich um, ihr Mund halb offen, Caspar küsste sie, ihre Wangen waren nass, er schmeckte das Salz. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, hielt es, für einen Moment standen sie still. Dann drehte sie sich wieder zum Fenster, stützte sich auf die Heizungsverkleidung und bog ihren Rücken durch. Er drang in sie ein, sah ihre Schulterblätter, die weiße Haut, den dünnenFilm auf ihrem Rücken und alles war zerbrechlich, gleichzeitig und endlich.
    Viel später lagen sie auf dem Bett, müde und ohne Verlangen, sie sprachen von Philipp, von Roßthal und ihrem Sommer, bis allmählich die Worte verschwammen. Im Schlaf ballte Caspar Leinen seine Hand zu einer Faust, als könne er festhalten, was sich verflüchtigte.
    Er wachte früh auf. Johanna lag auf dem Rücken, ihr Kopf lag in ihrer Armbeuge, sie atmete ruhig und gleichmäßig. Leinen sah ihr lange zu, dann stand er auf, zog sich im Dunkeln an, schrieb ihr einen Zettel und schloss leise die Tür. Die Lobby war

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