Der Fall Collini
ihn mit seinem Vornamen ansprach, drehte sich Collini zu ihm. Noch im Sitzen war er anderthalb Köpfe größer als der Beamte. Er beugte seinen riesigen Schädel über ihn und flüsterte: »Geh weg.«
Der junge Beamte rutschte in die andere Ecke des Transporters, Collini lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. Den Rest der Fahrt schwiegen sie, und auch später versuchte kein Polizist mehr, den Gefangenen ohne seinen Anwalt zu sprechen.
Schon vor der Vernehmung hatte die übliche Ermittlungsarbeit begonnen. Die Polizei tat alles, um ein Bild von Collini zu bekommen. Er war in den Fünfzigerjahren als Gastarbeiter aus Italien nach Deutschland gekommen. Er hatte bei Mercedes in Stuttgart als Lehrling begonnen, hatte dort seine Gesellenprüfung gemacht und war bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren in der Firma geblieben. In der Personalakte der Firma gab es kaum Einträge, er sei gewissenhaft, zuverlässig und selten krank. Collini war unverheiratet. Er hatte fünfunddreißig Jahre inder gleichen Wohnung in Böblingen gelebt, einem Wohnblock aus den Fünfzigerjahren. Manchmal hatte man ihn mit einer Frau gesehen, unter den Nachbarn galt er als ruhiger und freundlicher Mann. Er hatte keine Vorstrafen, der Polizei in Böblingen war er unbekannt. Die Ermittler erfuhren von ehemaligen Arbeitskollegen, dass er seine Ferien immer in der Nähe von Genua bei Verwandten verbracht hatte, aber auch die italienischen Behörden konnten nichts berichten.
Der Ermittlungsrichter erließ einen Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung. Auch dort fanden die Polizisten nichts, was auf einen Mord hindeutete. Die Finanzermittlungen erbrachten nichts anderes, seine Verhältnisse waren geordnet. Über ein Rechtshilfeersuchen an Italien wurde versucht, die Waffe zu identifizieren, aber es gab keine Hinweise, dass sie schon einmal bei einem Verbrechen benutzt worden war.
Obwohl die Strafverfolger jeder Spur nachgingen, waren sie nach sechs Monaten so weit wie am Anfang: Sie hatten ein Opfer und einen geständigen Täter, aber sonst hatten sie nichts. Der Hauptkommissar, der die Ermittlungen leitete, erstattete Oberstaatsanwalt Reimers regelmäßig Bericht. Am Ende zuckte er mit den Schultern. Er sagte, angesichts der Tatausführung müsse es sich um Rache handeln,aber er fände einfach keine Verbindung zwischen Täter und Opfer, Collini sei ein Geist geblieben. Und als Collini schließlich auch die Begutachtung durch einen psychiatrischen Sachverständigen ablehnte, blieben Polizei und Staatsanwaltschaft keine Ansätze mehr für weitere Ermittlungen.
Oberstaatsanwalt Reimers ließ den Kriminalbeamten so lange Zeit, wie er konnte. Manchmal tauchte während der Ermittlungen irgendetwas überraschend auf, eine Kleinigkeit, die alles erklärte. Man musste Geduld haben und gelassen bleiben. Aber in diesem Verfahren änderte sich nichts, alles blieb wie am ersten Tag. Reimers wartete Monate, erst dann setzte er sich an den Schreibtisch, las alles noch einmal, schrieb den Abschlussvermerk und die Anklage. Natürlich musste er das Motiv Collinis nicht kennen, um ihn wegen Mordes anzuklagen – wenn ein Beschuldigter nichts sagt, ist es seine Sache, niemand kann ihn zwingen. Aber Reimers mochte keine offenen Enden. Er wollte ruhig schlafen und wissen, dass er das Richtige tat.
Bevor er an diesem Abend das Büro verließ, legte er die Akten und die Anklage auf einen hölzernen Aktenbock, einen Beistelltisch mit verschiedenen Fächern, den die preußische Verwaltung erfunden hatte. Morgen würden sie dort von einem Wachtmeister abgeholt werden, »abtragen« nannten sie es.Die Anklage würde gestempelt, jemand würde sie zur Poststelle des Landgerichts bringen und sie würde ein Aktenzeichen des Schwurgerichts bekommen. Reimers hatte seine Arbeit erledigt, die Dinge würden ihren Gang gehen, und ab jetzt lag es nicht mehr in seiner Hand. Aber als er nach Hause ging, war er unruhig.
Die Monate nach der Verhaftung Collinis liefen für Caspar Leinen gut. Er wurde ein paarmal in den lokalen Zeitungen erwähnt und bekam neue Mandate: sechs Drogenverfahren, einen Betrug, eine kleine Unterschlagung in einer Firma, eine Kneipenschlägerei. Leinen arbeitete genau, Zeugen zu befragen lag ihm, und er verlor in dieser Zeit keinen einzigen Prozess. Allmählich sprach sich in Moabit herum, dass er ein Verteidiger war, mit dem man rechnen musste.
Er besuchte Collini einmal pro Woche in der Haftanstalt. Nie hatte sein Mandant Wünsche, nie beschwerte
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