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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gegangen. Jetzt würde schon lange jeder sein eigenes Leben leben, sie in London, er in Cambridge. Es sei nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten.
    Später zogen sie die Tücher von dem alten Flügel. Johanna spielte, aber der Blüthner war verstimmt, er klang hohl und falsch in dem leeren Haus. Irgendwann gingen sie hoch in ihr Mädchenzimmer. Sie schliefen unter Bergen von Decken miteinander, langsam und nah, die Wärme der fremden Haut. Schiffbrüchige auf einem Floß, dachte Leinen. Und dann verstand er, dass sie sich nicht liebten, der Begriff hatte keine Bedeutung – sie waren einfach.
    Als er aufwachte, glaubte er, er höre wie früher das Gebell der Hunde am Morgen und das Klappern des Geschirrs aus dem Esszimmer, und für einen Moment stand Philipp im Raum. Er sah aus, wie er immer um diese Zeit ausgesehen hatte: bleich, mit verstrubbelten Haaren, im Pyjama und offenen Morgenmantel. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel, er lächelte und winkte ihm zu. Leinen setzte sich auf die Fensterbank. In der Nacht hatte es wieder geschneit. Auf dem dunklen Kranich vor der Orangerie lag Schnee, sein Schnabel schien im Eis des Brunnens festgefroren.
    Am folgenden Vormittag durchsuchten sie Speicher und Keller, sie sahen in jeden Aktenordner, in Schränke und Kisten, aber sie fanden nichts, was Collinis Tat erklärte. Dann brachte Johanna ihn zu seinem Wagen. Bevor er durch das Tor aus dem Park fuhr, drehte er sich noch einmal um: Johanna verschwammim Tau auf der Rückscheibe, sie lehnte an einer der weißen Eingangssäulen und sah hoch in den hell erleuchteten Winterhimmel.

10
    Die 12. Große Strafkammer – eines der acht Schwurgerichte am Landgericht Berlin – ließ die Anklage wegen Mordes gegen Collini zu. Wie immer bei großen Prozessen wurden für den Tag keine weiteren Beweiserhebungen angeordnet, nur ein psychiatrischer Sachverständiger sollte teilnehmen, um Collini später begutachten zu können. Auch für die nächsten Tage war die Zeugenliste nicht besonders lang: Gäste und einige Angestellte aus dem Hotel, Vernehmungsbeamte und weitere Polizisten, Gerichtsmediziner und ein Sachverständiger für die Tatwaffe waren als Gutachter vorgesehen. Die Vorsitzende Richterin hielt das Verfahren für übersichtlich, sie legte nur zehn Hauptverhandlungstage fest.In den Fernsehnachrichten konnte man jetzt Mattinger sehen, er sagte immer das Gleiche: »Der Prozess wird vor Gericht entschieden.« Dabei sah er freundlich und klug aus, dreiteiliger dunkler Anzug, silberne Krawatte, weiße Haare. Und als die Kameras ausgeschaltet waren, erklärte er den Journalisten, worauf es ankäme. Die Presse brachte alte Verfahren von Mattinger. Eines galt als legendär: Ein Mann war von seiner Frau angezeigt worden, sie vergewaltigt zu haben. Es gab die üblichen Indizien, Hämatome an den Innenseiten ihrer Schenkel, sein Sperma in ihrer Vagina, lückenlose, widerspruchsfreie Aussagen bei der Polizei. Der Mann hatte bereits zwei Vorstrafen wegen Körperverletzung. Der Vorsitzende befragte die Frau, er war gründlich, er ging zwei Stunden jedem Detail in ihrer Aussage nach. Die Staatsanwaltschaft erklärte, sie habe keine Fragen. Aber Mattinger glaubte der Frau nicht. Seine erste Frage lautete: »Möchten Sie zugeben, dass Sie gelogen haben?« Sie verneinte. Er begann um 11 Uhr mit seinen Fragen, um 18 Uhr vertagte das Gericht den Prozess. Der Vorsitzende bat den Anwalt zur Richterbank, er schlug einen günstigen Deal für den Angeklagten vor, geringe Strafe bei Geständnis. Mattinger wurde laut: »Sehen Sie denn nicht, wie verrottet die Frau ist?« Am nächsten Verhandlungstag fragte Mattinger weiter. Und am übernächsten. Am Endestand die Frau siebenundfünfzig Tage im Zeugenstand und musste seine Fragen beantworten. Am Morgen des achtundfünfzigsten Tages gab sie zu, dass sie ihren Mann aus Eifersucht ins Gefängnis bringen wollte. Die letzte Frage war die gleiche wie am Anfang: »Möchten Sie zugeben, dass Sie gelogen haben?« Diesmal nickte sie. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Entweder konnte Mattinger die Ungerechtigkeit nicht ertragen oder er konnte nicht verlieren. Auf jeden Fall gab er nie auf.
    In diesen Tagen saß der alte Anwalt jede Nacht an seinem Schreibtisch, man konnte das Licht vom Kurfürstendamm aus sehen. Aber heute, in der Nacht vor dem ersten Hauptverhandlungstag, fühlte er sich alt. Er wollte nicht ins Bett gehen. Seine Frau war seit fünfzehn Jahren tot, trotzdem tastete er noch immer

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