Der Fall Collini
überfüllt, eine Vertretertagung, es war laut.
Er ging nach draußen und stieg in die Straßenbahn. Die Menschen sahen müde aus, manche schliefen auf ihren Sitzen, die Scheiben waren von innen beschlagen. Er stieg an der Haltestelle Tivolistraße aus, durchquerte den Englischen Garten und ging durch den Schnee zum Kleinhesseloher See. Kaum einen Kilometer von der Straße entfernt, mitten in der Stadt, sah er sie: Zwergtaucher, Reiher-, Tafel-, Kolben- und Stockenten, Blesshühner, Grau- und Streifengänse und vor allem die Rabenkrähen. Sein Vater hatte ihm als Kind die Vögel erklärt. Raben, hatte er gesagt, wüssten alles. Leinen wischte von einerParkbank den Schnee, setzte sich und schaute den Vögeln so lange zu, bis die Kälte sein Gesicht hart und seine Schultern steif gemacht hatte.
Am späten Nachmittag holte er Johanna in der Konzernrepräsentanz ab. In seinem Wagen fuhren sie nach Roßthal. Sie wollten Hans Meyers private Unterlagen durchsehen und Antworten finden. Roßthal war nur eine gute Stunde von München entfernt, aber als sie ankamen, schien es wie eine andere Welt. Haus und Park lagen im Schnee, blaues Winterlicht. Sie fuhren über das Rondell und parkten den Wagen vor der Treppe. Frau Pomerenke, die letzte Haushälterin Meyers, öffnete die Tür. Sie lief etwas wacklig die Stufen hinunter und umarmte Johanna mit Tränen in den Augen. »Ach, Caspar«, sagte sie dann, »wie schön, dass Sie auch wieder zu Hause sind.« Sie hatte Feuer im großen Kamin gemacht und sagte, in der Küche sei ein Abendessen, sie bräuchten es nur warm zu machen. Dann zog sie sich in ihre zwei Zimmer neben dem Wirtschaftsraum zurück, später hörten sie dort den Fernseher.
Johanna und Leinen gingen durch die Räume, über den Möbeln und Lampen lagen weiße Tücher, die Fensterläden waren geschlossen. Es war kühl und still. Nur in der Bibliothek tickte die Standuhr, jemand zog sie noch jeden Tag auf. Im Arbeitszimmer fiel Licht durch einen Spalt in den Vorhängen undteilte den Schreibtisch in breite Streifen. Hier hatte Hans Meyer jeden Tag Zeitung gelesen. In der Küche war sie immer gebügelt worden, damit sie steif blieb und die Druckerschwärze nicht an den Händen klebte. Sie standen bewegungslos in dem Zimmer und sahen den Schreibtisch an. Johanna riss sich zuerst los, sie umarmte und küsste Leinen, und es kam ihm so vor, als wolle sie sich versichern, dass sie lebendig seien.
Sie zogen die Tücher vom Schreibtisch, die beiden Schubladen waren unverschlossen: nur Briefpapier in verschiedenen Größen mit passenden Umschlägen, eine Sammlung von Bleistiften, zwei alte Füllfederhalter, ein Diktiergerät mit leeren Kassetten. In den Regalen standen unzählige Aktenordner, ordentlich beschriftet, Bilanzen, Haushaltsbücher, Einladungen, Geschäfts- und Privatkorrespondenz nach Jahren und Buchstaben geordnet. Sie saßen auf den beiden dunkelgrünen Sofas und blätterten eine lange Reihe Fotoalben durch, auch sie waren nach Jahren geordnet. Leinen erinnerte sich daran, wie Philipp und er sie schon früher angeschaut hatten: Familienfeste, Ausflüge, Ferien in Italien, Safaris in Afrika, Hochgebirgsjagden in Österreich. Die meisten Gesichter kannten sie. Johanna fand einen Band mit der Aufschrift »Caspar Leinen«. Hans Meyer hatte dort Urkunden eingeklebt, die Leinen ihm als Kind geschickthatte: Bundesjugendspiele, Frei- und Fahrtenschwimmer, zweiter Sieger der Internatsmeisterschaft beim Abfahrtslauf. Später hatte Hans Meyer sich aus der Rechtsabteilung der Firma die Aufsätze und Urteilsbesprechungen, die Leinen in juristischen Zeitungen geschrieben hatte, schicken lassen. Auch sie waren in Klarsichtfolien in den Ordner abgeheftet. Manchmal hatte Meyer einen Satz angestrichen oder ein Fragezeichen hinter einen Absatz gemacht.
Nach ein paar Stunden bekamen sie Hunger. Sie gingen in die Küche. Es gab Roastbeef und das noch warme Brot, das die Köchin für sie gebacken hatte. Sie sprachen leise, weil das Laute im Dunkeln falsch klang. Johanna erzählte von ihrer Ehe. Sie sagte, ihr Mann sei da gewesen, als ihre Eltern starben, Tag für Tag habe er sie geschützt vor der Einsamkeit, vor dem Tod. Aber langsam hätten die Dinge des Alltags sie überholt. Irgendwann habe sie ihn beim Frühstück nicht mehr ansehen können, sie habe gewusst, dass das bis zum Abend vorbei sein würde, aber beim Frühstück habe sie ihn einfach nicht mehr ansehen können. Das habe sie zwei Jahre ausgehalten, dann sei es nicht mehr
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