Der Fall Collini
jeden Morgen im Schlaf nach ihr und fast immer erschrak er, weil sie nicht da war. Als sie gestorben war, hatte er neben ihr auf dem Bett gesessen. Zuerst Unterleibskrebs, danach weitere Geschwüre, schließlich hatten die Ärzte gesagt, dass keine Hoffnung mehr bestünde. Ihr Geruch hatte sich schon seit Wochen verändert, zu viele Medikamente, zu viel Morphium. Er hatte neben ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, auch an diesem letzten Tag, als nur noch ein Strich auf dem EKG war. Die Ärzte hatten gesagt, sie hätte nichts gespürt. Er war erleichtert gewesen,als sie tot war, aber später hatte er sich dafür geschämt. Er war aufgestanden und hatte das Fenster geöffnet. Unten auf der Straße vor dem Krankenhaus hatten die anderen ihre Einkäufe nach Hause getragen, waren Arm in Arm gegangen, hatten telefoniert, gestritten, geredet, gelacht. Mattinger hatte gedacht, er gehöre nicht mehr dazu.
Er zündete sich eine Zigarre an und beugte sich wieder über die Akten. Als er um zwei Uhr früh das Licht ausschaltete, konnte er sie fast auswendig.
Auch Caspar Leinen war in dieser Nacht noch wach. Er blieb bis um halb vier Uhr morgens in seiner Kanzlei. Überall auf seinem Schreibtisch lagen Papierstöße, die Akte hatte er aufgeteilt in Zeugenaussagen, Sachverständige, Polizeiberichte, Spurengutachten. Leinen suchte etwas, aber er wusste nicht, was es war. Irgendeine Kleinigkeit hatte er übersehen. Irgendwo musste der Schlüssel sein, der den Mord erklären und die Welt wieder ordnen würde. Er rauchte zu viel, er war nervös, und er hatte Angst. Auf dem Beistelltisch neben dem Schreibtisch stand Hans Meyers Schachbrett, die alten Figuren waren verteilt auf den Papierstapeln. Leinen dachte an Johanna, vier Schwarz-Weiß-Bilder aus einem Fotoautomat klebten mit einem Tesastreifen am Schirm der Schreibtischlampe. Sie würde morgen kommen, siewollte den Mörder ihres Großvaters sehen. Er sah die Bilder an und merkte, wie müde er war. Leinen suchte seine Aktentasche. Er legte lediglich die Anklageschrift hinein, mehr würde er morgen nicht brauchen. Dann steckte er den weißen König aus dem Schachspiel in seine Hosentasche, zog den Mantel an, nahm seine Robe über den Arm und verließ das Büro.
Der Nachthimmel war wolkenlos, es war kalt. Er dachte daran, dass morgen drei Richter und zwei Geschworene, ein Staatsanwalt, ein Nebenkläger und er selbst über einen Angeklagten zu Gericht sitzen würden. Acht Menschen mit acht Lebensläufen, jeder mit eigenen Wünschen, Ängsten und Vorurteilen. Sie würden sich nach der Strafprozessordnung richten, einem alten Gesetz, das den Gang eines Verfahrens bestimmt. Hunderte Bücher waren über sie geschrieben worden, Urteile wurden aufgehoben, weil ein einziger ihrer über vierhundert Paragrafen nicht beachtet wurde. Leinen ging an Mattingers Kanzlei vorbei und sah hoch zu den Fenstern. Der alte Anwalt hatte gesagt, jeder Prozess solle ein Kampf um das Recht sein, die Väter der Gesetze hätten es so vorgesehen. Die Regeln seien klar und streng, nur wenn sie beachtet würden, könnte Gerechtigkeit entstehen.
Auf dem Kurfürstendamm standen die Prostituiertenvor den Leuchtkästen, eine sprach Leinen an, er lehnte höflich ab und ging durch das nächtliche Berlin nach Hause.
Um sechs Uhr begannen die Wachtmeister mit der Runde zu den Sälen des Gerichts, sie mussten die Terminzettel neben die Türen hängen. Auf den Aushängen stand, gegen wen und wann verhandelt wurde. Die Beamten würden etwa eine Stunde brauchen, das Gericht hatte zwölf Höfe, siebzehn Treppenhäuser, etwa dreihundert Verhandlungen fanden jeden Tag statt. Neben der hohen Doppeltür aus Holz mit der Aufschrift »500«, dem größten Verhandlungssaal in Moabit, heftete der Wachtmeister mit einer Reißzwecke ein einzelnes Blatt:
»12. Große Strafkammer – Schwurgericht –
Verfahren gegen Fabrizio Collini wegen Mordes –
9:00 Uhr«.
11
»Einen Kaffee, bitte.« Caspar Leinen hatte wenig geschlafen, aber sein Körper war voller Adrenalin, er war hellwach. Er saß im »Weilers«, einem Café gegenüber dem Gericht. Jeder ging hier hin, es gab hausgemachten Kuchen und belegte Brötchen. Manche sagten, das »Weilers« sei der eigentliche Mittelpunkt des Strafgerichts. Jeden Tag saßen hier Anwälte, Staatsanwälte, Richter und Sachverständige, Prozesse wurden besprochen, Vereinbarungen ausgehandelt.
»Gerne. Sie sind heute aber früh dran«, sagte die Bedienung, eine hübsche Türkin, über die es
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