Der Fall Collini
Fabrizio Collini. Bitte setzen Sie sich.«
Danach stellte sie die Anwesenheit der Prozessbeteiligten fest, verlas die Besetzung des Gerichts und fragte Collini nach Alter, Beruf und Familienstand. Schließlich drehte sie sich zum Oberstaatsanwalt um und bat ihn, die Anklage zu verlesen. Reimers trug den kurzen Text im Stehen vor, es dauerte kaum fünfzehn Minuten, ein Mord ist schnell geschildert. Die Vorsitzende erklärte, dass das Gericht die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen habe, sie belehrte Collini ausführlich über sein Recht zu schweigen. Die Protokollführerin tippte in den Computer: »Der Angeklagte wird über seine Rechte belehrt.« Dann wandte sich die Vorsitzende direkt an Leinen.
»Herr Verteidiger, Sie haben das sicher schon mit Ihrem Mandanten besprochen. Möchte der Angeklagte sich äußern?«
Leinen schaltete das Mikrofon vor sich ein, eine kleine rote Lampe leuchtete auf.
»Nein, Frau Vorsitzende, Herr Collini wird sich vorerst nicht einlassen.«
»Was heißt ›vorerst‹? Wird sich der Angeklagte denn später einlassen?«
»Wir haben das noch nicht entschieden.«
»Ist dies auch Ihre Erklärung, Herr Collini?«, fragte die Vorsitzende den Angeklagten. Collini nickte. »Na gut«, sagte sie und zog die Brauen hoch. »Dann haben wir für heute kein weiteres Programm. Fortsetzung der Verhandlung ist der kommende Mittwoch. Die Prozessbeteiligten sind geladen. Die Sitzung ist geschlossen.« Mit einer Hand hielt sie das Mikrofon zu und sagte: »Herr Dr. Reimers, Herr Mattinger, Herr Leinen, bitte, bleiben Sie noch einen Moment. Ich möchte mit Ihnen außerhalb der Sitzung sprechen.«
Leinen drehte sich zu Collini um und wollte sich verabschieden, aber sein Mandant war bereits aufgestanden und zu den Wachtmeistern gegangen. Bis der Saal leer war, dauerte es fast fünfzehn Minuten. Als die Prozessbeteiligten alleine waren, sagte die Vorsitzende: »Meine Herren, wir alle wissen, dass das ein ungewöhnliches Verfahren ist. Das Opfer ist fünfundachtzig, der Angeklagte siebenundsechzig. Er ist nicht vorbestraft und hat ein tadelloses Lebengeführt. Trotz der sehr langen Ermittlungen ist kein Motiv erkennbar.« Sie sah Oberstaatsanwalt Reimers streng an, die Kritik an der Arbeit der Staatsanwaltschaft war unüberhörbar. »Ich möchte Ihnen sagen, dass ich keine Überraschungen mag. Wenn die Verteidigung, die Staatsanwaltschaft oder die Nebenklage irgendwelche Anträge oder Erklärungen plant, ist jetzt die Gelegenheit, das dem Gericht mitzuteilen.«
Die Richter, Reimers und Mattinger sahen Leinen an. Es war eindeutig: Sie brauchten das Motiv Collinis und warteten darauf, dass er einen Fehler machte.
»Frau Vorsitzende«, sagte Leinen, »Sie wissen ja, dass Sie alle viel mehr Erfahrung haben als ich und dass das mein erster Schwurgerichtsprozess ist. Deshalb verzeihen Sie, dass ich frage, ob ich Sie eben richtig verstanden habe: Wollen Sie jetzt von mir wissen, wie sich Herr Collini verteidigen wird? Er sagte Ihnen eben in der Verhandlung, dass er vorerst schweigen will. Wollen Sie jetzt von mir mehr erfahren?«
Die Vorsitzende musste lächeln. Leinen lächelte zurück.
»Ich sehe«, sagte sie, »dass wir uns keine Sorgen machen müssen, der Angeklagte werde nicht gut verteidigt. Dann lassen wir es vorerst dabei. Einen schönen Tag noch, wir sehen uns am Mittwoch.«
Reimers packte seine Akten zusammen, Leinen und Mattinger gingen zur Saaltür. Mattinger legte seine Hand auf Leinens Unterarm.
»Gut gemacht, Leinen«, sagte Mattinger. »Und jetzt die Presse.« Er nickte Leinen kurz zu und öffnete die Doppeltür. Die Blitzlichter der Fotografen blendeten sie. Mattinger stellte sich in das Licht der Kameras. Trotz seiner gebräunten Haut sah er jetzt bleich aus, und Leinen hörte ihn immer wieder sagen: »Warten Sie doch den Prozess ab, meine Damen und Herren. Es tut mir leid, aber ich werde jetzt noch nichts kommentieren. Warten Sie es ab.«
Leinen drückte sich an den Reportern vorbei.
Vor dem Gericht wartete Johanna in einem Taxi. Sie ließen sich zum Schloss Charlottenburg fahren. Jeder sah aus seinem Fenster, sie wussten nicht, was sie sagen sollten. In der Sonne war es warm, aber der Park hinter dem Schloss lag im Schatten, und der Wind war kalt. Eine alte Frau streute Vogelfutter auf den Weg, sie musste es noch vom Winter übrig haben.
»Krähen betteln nie«, sagte er, um irgendetwas zu sagen.
Sie gingen lange nebeneinander, ohne zu sprechen. Ihre Schuhe waren für den Kiesweg zu
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