Der Fall Collini
in Moabit viele Geschichten gab.
Leinen war schon um acht Uhr im Café, eine Stunde vor Prozessbeginn. Auf dem Bürgersteig vor dem Gerichthatten die Sender Kameras aufgebaut, Übertragungswagen parkten halb auf der Straße, Kameramänner in dicken Mänteln und Fernsehreporter in zu dünnen Anzügen standen in der Kälte. Die größeren Teams hatten sich eine Dreherlaubnis für das Gerichtsgebäude besorgt. Auch das »Weilers« war voller Journalisten, sie versuchten abgeklärt auszusehen.
Eine Gruppe junger Staatsanwälte kam ins Café, Leinen kannte einige vom Referendariat. Es gab die üblichen Witze über reiche Anwälte und arme Staatsdiener. Leinen erfuhr, dass niemand bei »Kap«, der Abteilung für Kapitalverbrechen der Staatsanwaltschaft, eine Überraschung erwarte.
Leinen trank aus und verabschiedete sich, einer der Staatsanwälte klopfte ihm auf die Schulter und wünschte ihm Glück. Nachdem er den Kaffee an der Theke bezahlt hatte, ging er über die Straße zum Haupteingang. Er zeigte den Beamten seinen Hausausweis, wurde an der langen Reihe der Besucher vorbeigelassen und stand in der Mittelhalle des Gerichts. Noch immer fand er den Eindruck überwältigend: Die Halle war dreißig Meter hoch, eine Kathedrale. Die Steinplastiken über dem Treppenhaus sahen bedrohlich nach unten, sechs Allegorien für Religion, Gerechtigkeit, Streitsucht, Friedfertigkeit, Lüge und Wahrheit. Angeklagte und Zeugen sollten sich klein fühlen, sie sollten die Macht der Justizfürchten. Selbst auf jeder Bodenfliese waren die Buchstaben »KCG« eingebrannt, die Insignien für »Königliches Criminal Gericht«. Leinen nahm einen versteckten Aufzug im Seitenflügel, fuhr in den ersten Stock und betrat den Saal 500.
Obwohl es ein ganz normaler Arbeitstag war, saßen auf den Zuschauerbänken etwa hundertdreißig Menschen eng aneinander. Der Andrang der Presse war so groß, dass für die Journalisten die Sitzplätze ausgelost werden mussten. Sie würden enttäuscht sein, denn am ersten Verhandlungstag in solchen Prozessen wird fast immer nur die Anklage verlesen.
Trotzdem hatten alle wichtigen Zeitungen ihre Korrespondenten geschickt, Leinen kannte keines der Gesichter. Vier Kamerateams liefen durch den Saal, sie filmten, was sie filmen konnten: Aktenstöße, Gesetzbücher und natürlich Fabrizio Collini. Er saß in einem Glaskäfig hinter der Verteidigerbank, man konnte ihn kaum sehen. Es waren Fernsehbilder ohne Aussage.
Oberstaatsanwalt Dr. Reimers saß an der Fensterseite, er sah auf die Uhr. Vor ihm lag eine schmale rote Akte, sie enthielt nichts als die Anklage, mehr war für heute nicht vorgesehen. Es würde ein kurzer Prozesstag werden. Neben dem Staatsanwalt, durch eine Glasscheibe getrennt, stand Mattinger als Vertreter der Nebenkläger.
Leinen ging zu seinem Platz, zog die Anklageschrift aus der Tasche und stellte den weißen König aus Meyers Schachspiel vor sich auf den Tisch. Johanna erschien als Letzte, damit sie nicht mit der Presse sprechen musste. Er ertrug es fast nicht, sie auf der anderen Seite zu sehen.
Kurz nach neun sagte die Protokollführerin in das Mikrofon: »Stehen Sie bitte auf.« Als alle Zuschauer und Prozessbeteiligten standen, öffnete sich eine kleinere Tür hinter der Richterbank. Leinen wusste, dass dahinter das Beratungszimmer lag, ausgestattet mit einem langen Tisch, Stühlen, einem Telefon und einem Waschbecken.
Als Erste betrat die Vorsitzende den Saal, ihre linke Hand zitterte ein wenig. Sie stellte sich vor den mittleren der fünf hohen Stühle, je ein Berufsrichter stand neben ihr, die Schöffen außen. Bis auf die Schöffen trugen alle schwarze Roben. Sie blieben stehen und sahen noch drei, vier Minuten den Kamerateams zu. »So, meine Damen und Herren, jetzt ist es genug, bitte verlassen Sie den Saal«, sagte die Vorsitzende freundlich. Ein Wachtmeister öffnete die Saaltür, zwei andere postierten sich vor den Kameras und breiteten die Arme aus. »Sie haben gehört, was die Vorsitzende gesagt hat, bitte verlassen Sie jetzt den Saal.« Allmählich kehrte Ruhe ein.
»Ist der Angeklagte vorgeführt?«, fragte die Vorsitzendedie Protokollführerin auf der rechten Seite. Auch sie trug eine schwarze Robe. Die junge Frau hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Ja«, sagte sie.
»Gut, dann fangen wir jetzt an.« Die Vorsitzende machte eine kurze Pause und zog das Mikrofon zu sich. »Ich eröffne die Sitzung der 12. Großen Strafkammer in dem Verfahren gegen Herrn
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