Der Fall Collini
sah er die Reifen des Wagens, die Stiefel, sie blieben kurz stehen, drehten und gingen in Richtung Haus. Dann hörte er die Schwester schreien. Er konnte nicht anders. Er kroch aus der Hütte, rannte zurück zum offenen Hauseingang und stieß die Tür zur Küche auf.
Die Schwester lag mit dem Rücken auf dem breiten Küchentisch, ihr Kopf zeigte zur Tür. Ihr Kleid war aufgerissen, das weiße Unterhemd quoll über den groben Stoff. Der Mann stand zwischen ihren Beinen, seine Hose hatte er heruntergelassen, Hemd und Jacke waren zugeknöpft. Fabrizio kannte die Abzeichen, ein einfacher Soldat ohne Rang. Auf der Stirn eine riesige gezackte Narbe. Seine Pistole hatte er auf die Brust der Schwester gesetzt, den Hahn gespannt, sein Finger am Abzug. Sie blutete aus einer Platzwunde auf der Stirn, am Griff der Pistole klebten Haare. Das Gesicht des Mannes war rot, er keuchte und schwitzte.
Fabrizio schrie. Er schrie laut, lauter als jedes andere Geräusch auf dem Hof, ein einziger hoher Ton, und während er schrie, passierte alles gleichzeitig. Der Soldat erschrak und wich zurück. Das Mädchen trug eine goldene Kette mit einem Marienbild ausEmaille, ihre Mutter hatte sie ihr geschenkt. Das Korn der Pistole verhakte sich, die Kette spannte sich um den Hals des Mädchens und hielt die Waffe fest. Der Mann riss die Pistole zu sich, der Widerstand übertrug sich auf den Abzug. Ein Schuss löste sich. Das Projektil durchschlug den Hals des Mädchens, zerriss die Schlagader und blieb im Küchentisch stecken. Sie fasste an ihren Hals, zwischen ihren Händen quoll Blut. Der Soldat stolperte nach hinten, rutschte aus und fiel auf den Boden. Fabrizio schrie noch immer. Die Bilder konnte er nicht ordnen: der blass-blaue Rauch des Schusses, der erigierte Penis, das Blut auf dem Küchentisch. Alles blieb stehen, die Welt bewegte sich nicht mehr. Dann sah er die braune Tabakdose seines Vaters. Sie stand auf dem Küchenregal, wie sie dort immer gestanden hatte. Jeden Abend hatte der Vater nach dem Essen zwei Zigaretten gedreht, und während er sie rauchte, hatte er mit den Kindern gesprochen. Fabrizio konnte die beiden Indianer auf dem lackierten Holzdeckel erkennen, sie saßen am Lagerfeuer, friedlich und ewig. Er hörte auf zu schreien. Der Soldat saß auf dem Boden, die Pistole lag in seinem Schoß. Er starrte Fabrizio an. Die Augen des Soldaten waren wie Wasser, hellblau, fast farblos. Fabrizio hatte solche Augen noch nie gesehen, er konnte sich nicht von ihnen lösen. Er stand einfach da und sah in dieWasseraugen des Mannes. Erst als der Mann sich bewegte, konnte auch er sich bewegen und endlich begriff er, dass er um sein Leben laufen musste.
Fabrizio rannte aus der Küche über den Hof, er rutschte auf den nassen Pflastersteinen aus, schlug sich das rechte Knie auf. Vater würde wegen der zerrissenen Sonntagshose schimpfen. Zwischen Hundehütte und Weiher in den Pinienwald, dann die schmale Brücke und immer weiter den Waldweg entlang bis raus zur freien Ebene. Er wusste nicht, wie lange er gerannt war, endlos hätte er weiterlaufen können, als er den Hof des Onkels sah. Das Haus war ganz anders als das seines Vaters, groß und lang gestreckt stand es auf einer Erhebung, eine Pinienallee führte zu ihm. Die Haustür war unverschlossen. Fabrizio rannte seine Tante Giulia im Eingang fast um. Er stammelte außer Atem, bis der Onkel und die zwei Knechte kamen, dann redete er ruhiger, und schließlich verstand der Onkel. Er nahm die Schrotflinte aus dem Schrank und fuhr mit dem Wagen vom Hof.
Als der Onkel zurückkam, war es Nacht. Er setzte sich auf die Stufen vor der Tür und starrte in die Dunkelheit, es war kalt geworden. Fabrizio ging zu ihm. Der Onkel öffnete den riesigen Schafwollmantel, Fabrizio setzte sich neben ihn auf das Innenfutter. Der Onkel legte den Arm um ihn, er roch nachRauch, Gesicht und Hände waren verrußt. Im gelben Licht des Küchenfensters sah Fabrizio nasse Furchen auf den schwarzen Wangen des Onkels.
»Fabrizio, mein Junge.«
»Ja, Onkel«, sagte er.
»Euer Hof ist abgebrannt, deine Schwester ist tot.«
»Ist sie verbrannt?«
»Ja.«
»Ganz?«
»Ja. Ganz.«
»Hast du sie gesehen?«
Onkel Mauro nickte.
»Und die Tiere, sind die Tiere auch verbrannt?«
»Die Kuh, ja. Bei den anderen weiß ich es nicht«, sagte der Onkel. »Vielleicht sind sie jetzt im Wald.«
Fabrizio dachte über die Tiere im Wald nach. Sie würden sicher frieren und hatten Hunger. Besonders die Schweine hatten immer
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