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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Der Nebel wurde dichter, Wind kam auf. Über sich hörte er den Ruf einer Stockente im Flug, er konnte sie nicht sehen. Er unterbrach Baumann: »Ich werde Ihr Angebot nicht annehmen.«
    »Was?« Baumann spielte nicht, er war wirklich erstaunt.
    »Sie haben nichts verstanden«, sagte Leinen leise und stand auf. »Auf Wiedersehen.« Er ging über den Bootssteg zurück zum Zelt. Er hörte Baumann hinter ihm herrufen. Das große Boot auf dem See wendete, die Lampen beleuchteten das Ufer. Ein paar Gäste standen in Smoking und Abendkleidern vor dem Zelt und prosteten den Menschen auf dem Boot zu. Es roch nach Diesel und Fäulnis.
    Leinen ging am Zelt vorbei die Stufen hoch zum Haus. Mattinger stand in einem hell erleuchteten Zimmer, den Arm hatte er um seine Freundin gelegt. Sie zeigte auf irgendetwas auf dem See, Mattinger sah in eine andere Richtung. Leinen überlegte, ob er sich noch verabschieden sollte, aber es waren ihm zu viele Menschen dort oben. Er ging zu seinem Wagen. Als er ihn aufschloss, wurde das Feuerwerk gezündet. Er setzte sich auf die Motorhaube, rauchte und sah noch eine Zeit lang zu.
    Zu Hause in seiner Wohnung war es stickig. Er öffnete die Fenster, zog sich aus und legte sich auf das Bett. »Ein Verteidiger verteidigt, nicht mehr und nicht weniger«, hatte Mattinger gesagt. Der Satz sollte helfen, aber er half nicht. Dann dachte er an Johanna und daran, dass erst morgen der Prozess gegen Fabrizio Collini wirklich beginnen würde.

14
    Es war der siebte Prozesstag. Die Vorsitzende ließ die Sache aufrufen, stellte für das Protokoll fest, dass alle anwesend waren, und sagte, sie freue sich, dass die Schöffin wieder gesund sei.
    »Für alle Beteiligten teile ich folgenden Vermerk mit«, sagte sie. »Der Verteidiger hat mir gestern mitgeteilt, dass eine Einlassung seines Mandanten erfolgen werde, und da wir heute kein anderes Programm vorgesehen haben, würde ich die Erklärung gerne hören.« Sie wandte sich an Leinen. »Bleibt es dabei?«
    »Ja, Frau Vorsitzende.«
    »Gut, Herr Verteidiger, dann bitte.« Die Vorsitzende lehnte sich zurück.
    Leinen trank einen Schluck Wasser. Er sah zu Johanna. Gestern hatte er ihr am Telefon gesagt, eswürde heute schrecklich werden, aber es ginge nicht anders. Leinen stand ruhig und aufrecht vor dem Stehpult an seinem Platz. Er begann zu lesen, langsam, weich, er sprach fast ohne Betonung. Jeder im Saal spürte die Konzentration des jungen Anwalts in seinem ersten großen Prozess. Außer seiner Stimme hörte man im Saal nur das Umblättern der Seiten. Selten sah er hoch, dann blickte er die Richter an, jeden Einzelnen. Leinen berichtete in der spröden Sprache des Gerichts, er sagte nur das, was er von Collini gehört und was er in den Akten in Ludwigsburg gefunden hatte. Aber während er die Erklärung vorlas, während er Satz um Satz das Grauen vortrug, veränderte sich der Saal. Menschen, Landschaften und Städte erschienen, die Sätze wurden zu Bildern, sie wurden lebendig, und viel später sagte einer der Zuhörer, er habe die Felder und Wiesen der Kindheit Collinis riechen können. Aber mit Caspar Leinen geschah noch etwas anderes: Jahrelang hatte er seinen Professoren zugehört, er hatte Gesetze und ihre Auslegung gelernt, er hatte versucht, den Strafprozess zu begreifen – aber erst heute, erst bei seinem eigenen Antrag, begriff er, dass es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ging: den geschundenen Menschen.
    –
    »Ite, missa est – gehet hin in Frieden.« Die Stimme des Priesters war rau und freundlich.
    »Deo gratias – Dank sei Gott, dem Herrn«, antworteten die elf Kinder im Chor. Sie blieben einen Moment an ihrem Platz stehen, sie trauten sich noch nicht loszulaufen. Natürlich waren die zwei Stunden Kommunionsunterricht am Sonntag nach der Kirche immer eine Qual. Der Alte konnte zwar gut erzählen, manche Geschichten waren gar nicht schlecht, aber er war streng, und Fabrizio hatte schon einige Male den Rohrstock gespürt. Endlich öffnete der Alte die Tür, lachte und sagte: »Na los, verschwindet.« Die Kinder rannten über den Flur des Schulhauses, raus in den kalten Novembertag. Fabrizio stieg auf sein Fahrrad. »Bis morgen«, schrie er den anderen zu und fuhr los. Er hatte siebzehn Kilometer bis zum Hof seiner Eltern vor sich. Zu Hause würde er sofort diesen idiotischen Anzug aus- und seine Räubersachen anziehen, vielleicht wäre dann noch Zeit, um zur alten Mühle zu fahren und sich mit den anderen zu treffen.
    Fabrizio Collini war an

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