Der Fall Collini
diesem 14. November 1943 neun Jahre alt. Er war Herrscher über eine Kuh, vier Schweine, elf Hühner und zwei Katzen auf dem Hof seiner Eltern, er war der bedeutendste aller Feldherren, Radrennmeister und Zirkusartist. Er hatte schon ein abgestürztes Flugzeug und zwei tote Soldatengesehen, er besaß ein Fernglas, ein Fahrrad und ein Taschenmesser mit Hirschhorngriff. Außerdem hatte er eine sechs Jahre ältere Schwester, die er meistens nicht ausstehen konnte. Und jetzt war er vor allem hungrig.
Fabrizio nahm die Abkürzung über den Feldweg. Zwischen dem Dorf Corria und dem kleinen Hof seines Vaters lag ein Hügel, Ausflugsziel der Liebespaare am Wochenende. Von dort aus hatte man einen guten Überblick über die Gegend, es war noch immer ruhig. Die Alliierten waren vor vier Monaten in Sizilien gelandet, Benito Mussolini war gestürzt und gefangen genommen worden. Der König beauftragte Marschall Pietro Badoglio, eine Militärregierung zu bilden, und kurze Zeit später wurde zwischen den Alliierten und der neuen italienischen Regierung ein Waffenstillstand geschlossen. Auf Befehl Adolf Hitlers wurde Mussolini am 12. September 1943 von deutschen Fallschirmjägern aus einem Gebirgshotel befreit, zwei Wochen später wurde er als Regierungschef der neu gegründeten »Italienischen Sozialrepublik«, der »Repubblica Sociale Italiana« eingesetzt, eine faschistische Regierung unter dem Protektorat des Deutschen Reiches. Fabrizio wusste von alldem nur wenig. Natürlich war ihm klar, dass Krieg war, die beiden Brüder seines Vaters waren auf dem Feldzug Italiens gegen Griechenlandvor drei Jahren gefallen, aber er erinnerte sich kaum an sie. Sein Vater hatte damals geweint. Der Krieg sei Wahnsinn. Fabrizio erinnerte sich an das Wort: »Follia« – Wahnsinn –, er wusste nicht, was es bedeutete, aber der Vater hatte es immer wieder gesagt und Fabrizio wurde klar, dass es etwas Schreckliches war. Jetzt waren die Deutschen in ihren Uniformen überall. Manchmal kamen Verwandte aus Genua ins Dorf, sie erzählten, dass die Deutschen aus den Fabriken alles abtransportierten, was sie brauchten. Die Männer bekamen düstere Gesichter, es wurde von Partisanen und Anschlägen geflüstert, und obwohl man alles vor den Kindern zu verbergen suchte, hießen deren Spiele nicht mehr »Räuber und Gendarm«, sondern »Partisan und Deutscher«. Manchmal zog der Vater abends den grauen Mantel an und setzte eine Baskenmütze auf, küsste seine beiden Kinder auf die Stirn und verließ den Hof. Fabrizio hörte die Schwester in diesen Nächten weinen, und wenn er nach ihr rief, kam sie ins Zimmer und flüsterte, Vater sei ein Partisan. Die Mutter war bei Fabrizios Geburt gestorben.
Als Fabrizio das Plateau des Hügels erreichte, blieb er wie immer kurz stehen. Er konnte den Hof des Vaters sehen, das Wohnhaus und die kleine Scheune. Er raste den Hügel runter. Als er die Pflastersteine des Hofes erreichte, stand seine Schwester im Türrahmendes Hauseingangs. Sie trug noch das schwarze Kleid vom Kirchgang, und sie weinte. Fabrizio sprang vom Fahrrad, es fiel zur Seite. Er rannte zu ihr. Sie presste ihn an sich und sagte immer wieder: »Sie haben Vater mitgenommen. Die Deutschen haben Vater mitgenommen.« Fabrizio begann auch zu weinen. Die Kinder blieben lange so stehen, Fabrizio hatte Fragen, aber die Schwester sprach nicht mit ihm.
Irgendwann lösten sie sich voneinander und gingen in die Küche, mechanisch stellte sich die Schwester an den Herd, schlug zwei Eier in die Pfanne und schnitt Brot auf. Fabrizio aß, sie selbst rührte ihren Teller nicht an. »Wenn du fertig bist, gehen wir zu Onkel Mauro. Er weiß sicher, was zu tun ist«, sagte sie. Mauro war der ältere Bruder ihrer Mutter, ein harter Mann ohne Kinder und der einzige Verwandte. Sein Hof lag fast zehn Kilometer entfernt. Die Schwester strich Fabrizio über den Kopf und sah aus dem Fenster. Plötzlich sprang sie auf und schrie: »Lauf, Fabrizio, sie kommen wieder.« Fabrizio hörte den hämmernden Motor, durch das Fenster konnte er das deutsche Militärfahrzeug sehen, ein Kübelwagen mit heruntergeklappter Frontscheibe und Ersatzreifen auf der Motorhaube. Nur ein Soldat saß am Steuer. »Lauf, los, lauf endlich«, schrie die Schwester. Fabrizio erschrak über ihre Angst. Er rannte überden Hof und versteckte sich in der große Hundehütte, die seit Jahren leer stand. Er rollte sich in eine schmutzige Decke, die hart war und voller Löcher. Durch einen Spalt zwischen den Brettern
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