Der Fall Demjanjuk
amerikanischen Behörden Klage gegen John Demjanjuk erhoben hatten, war in der englischsprachigen Ausgabe der Wochenzeitung «News from Ukraine» ein neuer Artikel zu dem Fall erschienen. Verfasst hatte ihn derselbe Journalist, der auch schon ein Jahr zuvor, pünktlich zum Beginn der Ermittlungen, über die Sache geschrieben hatte. Wieder ist von Demjanjuks Einsatz in Trawniki und Sobibor die Rede, wieder wird der vermeintliche Dienstausweis erwähnt. Diesmal aber belässt es das sowjetische Blatt nicht bei dem bloßen Hinweis. Diesmal wird das Schriftstück mit der Dienstnummer 1393 abgebildet, auf gleich zwei Fotos. Nur: Auf dem «Dokument» steht unübersehbar, Demjanjuk sei im März 1943 nach Sobibor abkommandiert worden. Von Treblinka ist keine Rede.
Ein Jahr später, im Juni 1978, schickte die sowjetische Regierung im Zuge der Ermittlungen gegen Fjodor Fedorenko einige brisante Akten an das US-Justizministerium in Washington. Diese sogenannten Fedorenko-Protokolle enthielten auch die Aussagen von zwei ehemaligen KZ-Wachen aus Treblinka. Die beiden Zeugen schilderten ausführlichdas massenhafte Morden im Vernichtungslager und erklärten übereinstimmend, der ukrainische Maschinist, der die Gaskammern von Treblinka betrieben habe, habe Iwan geheißen – sein Nachname jedoch sei «Martschenko» gewesen. Nicht Demjanjuk.
Wiederum ein Jahr später, 1979, erhielten die US-Ermittler den Bericht einer polnischen Regierungskommission, die sich systematisch mit den NS-Kriegsverbrechen in Polen beschäftigt hatte. Im Anhang des Berichts befand sich eine Liste mit den Namen von etwa siebzig Männern, die als Wachen im Vernichtungslager Treblinka gedient hatten. Demjanjuks Name war nicht darunter – wohl aber der von Iwan Martschenko, der Name des Mannes also, den die beiden sowjetischen Zeugen als «Iwan den Schrecklichen» identifiziert hatten.
Im gleichen Jahr, ebenfalls 1979, verfassten der OSI-Ermittler Bernard Dougherty und der Historiker George Garand einen Aktenvermerk über ein Interview, dass sie in West-Berlin mit Otto Horn geführt hatten, einem ehemaligen SS-Mann, der in Treblinka gedient hatte. Horn war einer der wichtigsten Zeugen der Anklage. Er hatte ausgesagt, er habe Demjanjuk auf alten Fotos wiedererkannt. Dougherty und Garand wiesen in ihrem Bericht jedoch darauf hin, dass Horns Aussage zweifelhaft und in sich widersprüchlich gewesen sei.
Und im Januar 1980 schließlich bekam das OSI aus Moskau die beglaubigte Kopie der Aussage eines Mannes namens Ignat Daniltschenko. Es dürfte dieses Dokument gewesen sein, das Parker endgültig zum Skeptiker machte. Vier Wochen später schrieb er sein Memorandum, in dem er eine «Neubewertung» des Falles Demjanjuk forderte. Daniltschenko war von März 1943 bis Frühjahr 1944 Wachmann in Sobibor gewesen. Während eines Kriegsverbrecherprozesses in Kiew hatte er 1949 ausgesagt, in Sobibor habe er sich mit einem anderen Ukrainer angefreundet: mit Iwan Demjanjuk. Später seien sie gemeinsam in das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz versetzt worden. Für seine Kollaboration mit den Nationalsozialisten wurde Daniltschenko von einem sowjetischen Gericht zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Das Verfahren gegen ihn entsprach gewiss nicht rechtsstaatlichen Standards. Aber seine Aussage deckte sich mit den Angaben in Demjanjuks vermeintlichem Trawniki-Ausweis. Noch ein Hinweis auf Sobibor also.
«Demjanjuk kann nicht zugleich Iwan der Schreckliche in Treblinka und der Demjanjuk gewesen sein, den Daniltschenko in Sobibor kannte», schreibt Parker in seinem Memorandum. Und er fordert einen «radikalen Eingriff» in den Ermittlungsansatz des OSI. Aber er findet kein Gehör. Parkers Bericht wird in einer Sitzung diskutiert, doch seine Vorschläge werden weithin ignoriert. Das OSI ergänzt zwar die Anklage gegen Demjanjuk formal um den Vorwurf, er sei Wachmann auch in Trawniki und Sobibor gewesen, aber alle Energie wird auch weiter darauf konzentriert, ihn als Iwan den Schrecklichen zu überführen. Das Papier verschwindet im Archiv, und nicht lange nachdem er sein Memorandum verfasst hat, quittiert George Parker den Dienst beim OSI, aus Frustration, wie er später erklärte, dass sein Bericht übergangen worden sei.
Viele Jahre später, 1992, wurde die Arbeit des OSI im Fall Demjanjuk auf Anordnung eines US-Gerichts systematisch überprüft. Ein Jahr lang sichtete der erfahrene Jurist Thomas A. Wiseman die Akten, vernahm alle Beteiligten als Zeugen und analysierte deren
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