Der Fall Demjanjuk
Entscheidungen. Sein Bericht erlaubt einen außergewöhnlichen Einblick in die inneren Abläufe des OSI. In gleich sechs Fällen, so stellte der Sonderermittler fest, hätten es dessen Juristen versäumt, wichtige Unterlagen, die Demjanjuks Entlastung hätten dienen können, an die Verteidigung weiterzuleiten. Auch das US-Justizministerium räumte ein, es seien Fehler gemacht worden. Der Sonderermittler, Richter Wiseman, aber bescheinigte den Anklägern im Ergebnis, dass sie durchweg in guter Absicht gehandelt hätten. Sie hätten zwar, so wörtlich, «mit harten Bandagen gespielt» («they played hardball»), aber in keinem Fall Demjanjuk und dessen Anwälte vorsätzlich benachteiligt.
Das sah das Bundesberufungsgericht in Cincinnati, das die Überprüfung des Falls Demjanjuk angeordnet hatte, ganz anders. Einstimmig entschieden die drei Richter im November 1993, das Vorgehen des OSI gegen Demjanjuk sei ein Fall von «fraud on the court», so etwas wie «Rechtsbeugung». Eine Straftat, nach amerikanischem wie nach deutschem Recht.
Alle beteiligten Juristen im OSI wussten oder hätten wissen müssen, dass Demjanjuk in Israel wegen vielfachen Mordes angeklagt werden würde. Und sie wussten oder hätten wissen müssen, dass Demjanjukin Israel die Todesstrafe drohte, sollte er überführt werden. Und dennoch hielten sie wichtige entlastende Dokumente zurück, informierten Gericht und Verteidigung nur unvollständig, ignorierten Warnungen aus dem eigenen Haus und betrieben hartnäckig die Auslieferung von Demjanjuk. So jedenfalls befanden die Richter im Jahr 1993. Konsequenzen für einen der beteiligten Beamten hatten die Feststellungen allerdings nicht.
War das eine Verschwörung, wie Demjanjuks israelischer Anwalt Yoram Sheftel später behauptet hat? Eine «riesige internationale Verschwörung», in die angeblich Israel, Polen, Deutschland, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten verstrickt waren? Natürlich nicht. Es gab kein Komplott.
Aber was war es dann? Warum haben die US-Ermittler im Fall gegen Demjanjuk ihre Pflichten derart vernachlässigt? Im Nachhinein lässt sich das nur mehr schwer rekonstruieren. Es mag persönliche Vorbehalte gegen den schlichten Automechaniker aus Ohio gegeben haben. Vielleicht stellte sich auch irgendwann ein professioneller Jagdeifer ein; in ihrem Buch «The Healing Wound» zitiert die britische Journalistin Gitta Sereny den OSI-Staatsanwalt John Horrigan, der die Ermittlungen gegen Demjanjuk nach George Parkers Ausscheiden leitete, mit dem Worten: «Ihn anzuklagen wurde für uns alle zu einer Obsession.» Und fraglos standen viele der Beteiligten unter dem emotional überwältigenden Eindruck der Zeugenaussagen in Israel: Wer wollte die Erinnerungen dieser Holocaust-Überlebenden in Zweifel ziehen? Wer wollte irgendwelchen verstaubten Papieren aus sowjetischen Archiven mehr Glauben schenken als den Worten der Männer und Frauen, die der Hölle von Treblinka entkommen waren? Wenn sie Demjanjuk wiedererkannten als Iwan den Schrecklichen – wer konnte es wagen, ihnen zu widersprechen? Wer wollte ihnen öffentlich entgegenhalten: Ihr irrt euch?
Hinzu kam erheblicher politischer Druck. Nach einer Reihe von Fehlschlägen in Prozessen gegen vermeintliche NS-Kriegsverbrecher waren dem INS die Ermittlungen gegen Männer wie Demjanjuk oder Fedorenko entzogen worden. Auf Drängen mehrerer Kongressabgeordneter wurde stattdessen 1979 das Office of Special Investigations im US-Justizministerium gegründet. Es sollte NS-Kriegsverbrecher in denVereinigten Staaten aufspüren und vor Gericht bringen. Dafür hatte die Sondereinheit aus rund fünfzig Ermittlern, Staatsanwälten und Historikern weitreichende Kompetenzen bekommen. Und nun sollte sie liefern.
Am 25. August 1978, nur kurze Zeit nachdem die Fedorenko-Papiere in Washington eingetroffen waren, schrieb der einflussreiche Kongressabgeordnete Joshua Eilberg einen Brief an den damaligen Justizminister Griffin B. Bell, in dem er ein energisches Vorgehen gegen Demjanjuk forderte. Der letzte Satz des Briefes ist unmissverständlich: «Wir können es uns nicht leisten, einen weiteren Fall zu verlieren.»
Die Ermittler waren sich dieses Drucks bewusst. George Parker notierte 1980 in seinem Aktenvermerk, das Ausbürgerungsverfahren gegen Demjanjuk könne aus «vorwiegend politischen» Gründen nicht eingestellt werden. Ein anderer Jurist im OSI nannte den Fall eine politisch «heiße Kartoffel». Sollte die Sache verloren gehen, werde das
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