Der Fall Demjanjuk
noch auf die richtige Spur zu setzen und die ethischen Standards der amerikanischen Justiz auch in diesem heiklen Fall zu garantieren. Doch Parkers Bericht wird ignoriert.
Dabei gibt es Anfang der achtziger Jahre wohl niemanden in Washington, der den Fall Demjanjuk besser kennt als George Parker. Der Jurist im Office of Special Investigations (OSI) des US-Justizministeriums hat sich jahrelang mit den Ermittlungen gegen Demjanjuk beschäftigt, zuletzt hat er sie sogar geleitet. Ihm sind alle Dokumente vertraut, alle Zeugenaussagen, er hat jeden Bericht gelesen und weiß von beinahe jedem Gerücht. Parker ist im OSI dafür zuständig, Demjanjuk vor Gericht zu bringen – und den Fall zu gewinnen.
Doch Parker plagen Zweifel. Ausgerechnet der Mann, der Demjanjuk außer Landes schaffen soll, ist sich seiner Sache nicht sicher. Ihm fallen Widersprüche bei den Zeugenaussagen auf. Er registriertUnstimmigkeiten in den Akten. Und er sieht Lücken in der Beweisführung, die sein Team vorbereitet. Vor allem eine Frage treibt ihn um: Wie lassen sich die Beteuerungen der Holocaust-Überlebenden, Demjanjuk sei Iwan der Schreckliche aus Treblinka, mit den Dokumenten in Einklang bringen, die darauf deuten, dass er in Trawniki und Sobibor gewesen sei?
Schließlich fasst der erfahrene Washingtoner Jurist seine Bedenken zusammen. Am 28. Februar 1980, ein Jahr vor Beginn des Gerichtsprozesses, tippt Parker eigenhändig sein Memorandum und adressiert es an seine beiden Vorgesetzten: an Walter Rockler, den Direktor des Office of Special Investigations, und an dessen Stellvertreter Allan Ryan, an die beiden Männer also, die für die Enttarnung von NS-Kriegsverbrechern in den Vereinigten Staaten verantwortlich sind. An der Bedeutung des Vermerks lässt Parker keinen Zweifel. Sein Bericht beginnt mit den Worten: «Ich zögere für gewöhnlich, Dinge zu Papier zu bringen, wie ich sie in diesem Memo aufgeschrieben habe. Ich hielt es jedoch für zwingend, Sie auf die Fragen aufmerksam zu machen, die sich im vorliegenden Fall stellen und nun dringend einer Entscheidung bedürfen.» Parkers Vermerk trägt den Titel «Demjanjuk – A Reappraisal»: Demjanjuk – Eine Neubewertung.
Der Bericht beginnt mit einer kurzen Geschichte des Falls, analysiert dann die Stärken und Schwächen der Anklage, die das OSI vorbereitet, und nennt schließlich vier Optionen für die «strategische Entscheidung», die der Staatsanwalt nachdrücklich von seinen Vorgesetzten verlangt. Im Zentrum des Berichts steht Parkers Überzeugung, seine Behörde könne nicht schlüssig beweisen, dass Demjanjuk tatsächlich Iwan der Schreckliche aus Treblinka gewesen sei. Der entscheidende Satz lautet: «Wir haben wenig verwertbare Beweise, dass der Beschuldigte in Sobibor war, und ernste Zweifel, dass er in Treblinka war.» Eine Formulierung von bemerkenswerter Offenheit.
Parker weist vor allem auf den «beunruhigenden» Umstand hin, dass Demjanjuks Name auf keiner der bekannten Listen der Wachleute von Treblinka auftaucht. Und er notiert, dass es starke Indizien dafür gebe, nicht Demjanjuk, sondern ein anderer Ukrainer namens Iwan Martschenko sei der berüchtigte «Iwan der Schreckliche» gewesen. Parker zieht daraus einen eindeutigen Schluss: «Selbst wenn wir uns damitberuhigen wollten, dass wir den richtigen Mann wegen der falschen Tat verfolgen, gebieten es unsere ethischen Standards wahrscheinlich, unsere derzeitige Haltung zu ändern.»
Ob es George Parker tatsächlich darum ging, einen Justizirrtum zu verhindern, oder ob er sich als umsichtiger Bürokrat lediglich gegen mögliche Vorwürfe absichern wollte, er habe nicht deutlich genug auf Risiken hingewiesen, spielt keine Rolle. Denn Parkers Memorandum ist nicht als Dokument des inneren Ringens eines einzelnen Juristen von Belang. Sondern als Beleg dafür, dass Demjanjuks Ankläger – bis in die Spitze des OSI – schon vor Prozessbeginn im Besitz von Informationen waren, die Zweifel an der These hätten wecken müssen, Demjanjuk sei Iwan der Schreckliche gewesen.
Tatsächlich gab es Grund zu zweifeln, von Anfang an. Während in Israel immer mehr Holocaust-Überlebende Demjanjuk auf den Fotos, die ihnen Miriam Radwiker vorlegte, als Iwan den Schrecklichen wiederzuerkennen glaubten, erreichten die US-Behörden gleich mehrere Hinweise, die auf einen Einsatz von Demjanjuk in Sobibor deuteten und die Treblinka-Theorie wenigstens hätten erschüttern müssen.
Im September 1977, wenige Tage nachdem die
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