Der Fall Demjanjuk
US-Außenminister George Shultz unterzeichnet die Abschiebungsverfügung.
Am Abend des 27. Februar 1986 sitzt Demjanjuk in Handschellen in der Business Class einer Boeing 747 der israelischen Fluggesellschaft El Al, Flugnummer 004. Zwei US-Marshals bewachen ihn. Um kurz nach sechs Uhr wird die Maschine vom John F. Kennedy International Airport in New York abheben und am nächsten Morgen auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv landen. Demjanjuk wird seinen Prozess in Israel bekommen. Die Männer vom OSI glauben, einen Sieg errungen zu haben. Aber es ist ein vergifteter Sieg, ein Sieg, der den Keim der Niederlage schon in sich trägt.
Diese mörderischen Augen
Israel, 1986–1988
Am Morgen des 28. Februar 1986 landet El Al-Flug 004 aus New York auf dem Flughafen von Tel Aviv. Die Boeing 747 rollt auf ihre Parkposition abseits des Terminals. Eine Gangway wird herangeschoben, die vordere Kabinentür öffnet sich, und nach wenigen Augenblicken erscheint John Demjanjuk, blass, müde, übergewichtig, eingerahmt von den beiden bulligen US-Marshals. Er blinzelt in die Wintersonne. Seine Hände sind vor dem Bauch gefesselt. Unten, am Ende der Treppe, erwarten ihn drei israelische Polizeibeamte. Sie nehmen Demjanjuk die amerikanischen Handschellen ab, legen ihm israelische an, belehren ihn über seine Rechte und wollen ihn rasch zu dem Polizeiwagen führen, der den Häftling in das Aalen-Gefängnis bringen soll, in das Gefängnis, in dem schon Adolf Eichmann gesessen hatte.
Doch Demjanjuk zögert. Er gestikuliert. Ungelenk deutet er mit seinen gefesselten Händen auf den Beton des Rollfelds. Er, der gläubige Christ, wolle diesen Boden küssen, ruft er, «den Boden des Heiligen Landes», das er eben betreten hat. Unwirsch lehnen die Israelis ab. Weitergehen, weitergehen, befiehlt der kommandierende Polizeioffizier, Alex Ist-Schalom, und nach wenigen Schritten vorbei an den laut rufenden Journalisten sitzt Demjanjuk in dem wartenden Mini-Van der israelischen Polizei.
Der merkwürdige kleine Zwischenfall, Demjanjuks Wunsch nach einer pathetischen Geste, war der angemessene Auftakt für einenProzess, in dem Drama und Farce immer wieder ineinander schossen, bis sich schließlich das ganze Verfahren als Irrtum erweisen sollte.
Als Demjanjuk in Jerusalem ankam, hatte sich Israel auf einen zweiten Fall Eichmann vorbereitet. Zum ersten Mal seit 1961 stand wieder ein mutmaßlicher NS-Verbrecher vor einem israelischen Gericht, und so wie der Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann die Nation und die Welt mit der Realität des Völkermordes konfrontiert hatte, so sollte das Verfahren gegen John Demjanjuk das Grauen des Vernichtungslagers Treblinka noch einmal gewärtig machen, in Israel und rings um den Globus. Nach Eichmann, dem Schreibtischtäter, dem Organisator der «Endlösung», dem Bürokraten und Massenmörder, der 1962 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, sollte nun einer der grausamsten Vollstrecker des Judenmordes abgeurteilt werden: «Iwan der Schreckliche», das Monster von Treblinka.
Der Eichmann-Prozess hatte in Israel eine ungeheuer Wirkung. Er wirkte, schreibt der Historiker Tom Segen, der das Gerichtsverfahren gegen Demjanjuk für mehrere Zeitungen beobachtete, «wie eine Art Therapie für die ganze Nation». Bis zum Eichmann-Prozess hatte sich Israel «nicht besonders intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt, darüber herrschte Stillschweigen: Eltern erzählten ihren Kindern nicht, was sie durchgemacht hatten, Kinder wagten nicht zu fragen.» Der Eichmann-Prozess hatte dieses Schweigen durchbrochen. Ausführlich breitete die Anklage das historische Material aus. Dank ungezählter Dokumente und dank der Aussagen der Überlebenden entstand ein detailliertes Bild der Shoah, das sich tief ins kollektive Gedächtnis einprägte. Vielleicht lässt sich sogar behaupten, dass Israel nach dem Eichmann-Prozess ein anderes Land war als zuvor.
Eine ähnliche Selbstvergewisserung sollte, 25 Jahre später, auch der Prozess gegen Demjanjuk bewirken, für eine neue Generation. Er sollte noch einmal daran erinnern, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hatte. Und er sollte der Welt noch einmal vor Augen führen, dass Israel den Willen und die Mittel besaß, über die Täter zu richten. 1961, als Eichmann vor Gericht stand, hatten die Überlebenden des Holocaust und deren Familien noch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung ausgemacht. Nun standen die Kinder der Opfer in
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