Der Fall Demjanjuk
auf Demjanjuks vermeintlichen Dienstausweis, der schon im amerikanischen Ausbürgerungsverfahren eine wichtige Rolle gespielt hatte, und auf die Aussagen von mehreren Holocaust-Überlebenden, die Demjanjuk auf Fotos als Iwan den Schrecklichen von Treblinka identifiziert hatten.
Der Erste von ihnen war Pinhas Epstein, 62 Jahre alt, ein hochgewachsener Mann mit leicht rötlichem Haar und einer goldgefassten Brille. Vor Gericht trug er Krawatte und ein Jackett und strahlte etwas Beherrschtes, Förmliches aus, fast wie ein Bankier. Nüchtern und konzentriert begann er seine Aussage. «Ich wurde am 3. März 1925 in Czestochowa geboren und lebte dort mit meinen Eltern und meinen Geschwistern bis zu dem Tag, als wir abgeholt wurden.» Epstein war siebzehn, als er in Treblinka ankam. Gleich nach der Ankunft wurde er von einem SS-Mann von seiner Familie getrennt und zur Arbeit im Lager eingeteilt. Seine Eltern und seine Geschwister sah er nie wieder. Elf Monate lang musste der Junge, der in seinem Leben zuvor noch keinen Toten gesehen hatte, die Leichen der Ermordeten aus den Gaskammern herausholen und sie zu der Stelle schleppen, wo sie verbrannt wurden. Mühsam gefasst, sprach er von der Alltäglichkeit des Todes in Treblinka, von der ständigen Furcht, von den Peitschenhieben und der Brutalität der Aufseher.
Der amerikanische Journalist Tom Teicholz hat in seinem Buch über den Demjanjuk-Prozess in Israel zu Recht notiert, dass die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden für den heutigen Zuhörer einander auf beklemmende Weise ähneln können. «Der Horror gerät zur Routine. Ob die Geschichte in Warschau stattfindet oder in Czestochowa, in Treblinka oder einem anderen Lager – es ist die immer gleiche Erzählung vom Ghetto, von Deportationen, Viehwaggons, vom Schock bei der Ankunft im Lager. Sogar die Lagerkommandanten scheineneinander zu gleichen – stets sind sie herrisch, willkürlich, auf einfallsreiche Weise grausam. […] Doch für jeden Überlebenden waren seine persönlichen Erlebnisse absolut einzigartig. Worte reichen nicht aus, die Demütigungen und Erniedrigungen zu beschreiben.»
Wenige Tage nach Epsteins Aussage, am 25. Februar 1987, ziemlich genau ein Jahr nach Demjanjuks Ankunft in Israel, trat Eliahu Rosenberg in den Zeugenstand. Es sollte einer der entscheidenden Momente des Prozesses werden, vielleicht der wichtigste. Rosenberg war im September 1942 nach Treblinka gekommen, zusammen mit seiner Mutter und drei Schwestern, die alle sofort ermordet wurden. Wie Epstein hatte auch Rosenberg als Arbeitssklave der SS an den Gaskammern gearbeitet und konnte erst nach der Häftlingsrevolte am 2. August 1943 aus dem Lager fliehen.
Rosenberg und Demjanjuk begegneten sich nicht zum ersten Mal. Epstein und Rosenberg hatten bereits als Zeugen in den amerikanischen Ausbürgerungsverfahren gegen Demjanjuk ausgesagt und ihn als Iwan den Schrecklichen identifiziert. Nun trat Rosenberg in Jerusalem Demjanjuk von Neuem gegenüber. Diesmal aber ging es nicht bloß um eine Ausweisung aus den Vereinigten Staaten. Diesmal ging es um mehr. Um Demjanjuks Leben.
Ausführlich erzählte Rosenberg vom Grauen in Treblinka. Er berichtete, wie er fast ein Jahr lang jeden Tag neben Iwan dem Schrecklichen gearbeitet habe, nur ein paar Meter von dem sadistischen Wachmann entfernt, gewissermaßen Auge in Auge.
Schließlich fordert der Staatsanwalt den Zeugen auf, sich den Angeklagten genau anzuschauen. Ist dieser Mann, ist John Demjanjuk jener Mann, der in Treblinka «Iwan der Schreckliche» hieß?
Rosenberg wendet sich an den Richter: «Ich möchte das ehrenwerte Gericht bitten, den Angeklagten anzuweisen, seine Brille abzunehmen.»
«Seine Brille, wieso?», fragt Richter Levin.
«Ich will seine Augen sehen.»
Der Richter willigt ein, auch Demjanjuks Verteidiger stimmt zu. Demjanjuk muss seine große schwarze Brille abnehmen. Der Saal scheint vor Spannung zu vibrieren. Während Rosenberg auf den Angeklagtenzutritt, rufen Zuschauer von der Tribüne: «Mörder, Mörder!» und: «Schluss mit dem Prozess, an den Galgen mit ihm!»
Rosenberg, ein kleiner Mann mit dunklem, welligem Haar, kräftigen Händen und einem zerfurchten Gesicht, nähert sich Demjanjuk, bis er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Die unmittelbare Konfrontation der beiden Männer ist von schwer erträglicher Intensität. Plötzlich herrscht Schweigen in dem großen Saal. Einen Moment lang ist es, als stehe die Zeit still. Demjanjuk aber
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