Der Fall Demjanjuk
eingenommen, die jeden neutralen Beobachter irritieren musste. Faktisch schien die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt. In den Medien galt fast durchweg als sicher, dass der Angeklagte tatsächlich Iwan der Schreckliche aus Treblinka sei, nicht wenige israelische Politiker äußerten sich öffentlich in diesem Sinne, und alle Unschuldsbeteuerungen des Beschuldigten wurden beiseitegewischt.
Vor allem aber, und das war das eigentlich Problematische des Prozesses, unternahmen die Richter nichts, um die Vorverurteilung in den Medien zu unterbinden oder ihr entgegenzutreten. Im Gegenteil, sie förderten mit ihren Entscheidungen die Medialisierung des Verfahrens; etwa durch die Live-Übertragung im Fernsehen. Mehr noch, gelegentlich traf sich der Vorsitzende Richter Levin mit Journalisten, um ihnen Hintergründe des Prozesses zu erläutern – ein Verhalten, das in krassem Gegensatz zu allen Gepflogenheiten der israelischen Justiz stand. Und derselbe Levin habe, so berichtet Tom Segev, «schon in frühen Phasen des Verfahrens durchblicken (lassen), dass er Demjanjuks Identität für geklärt halte und es nur noch um das Strafmaß gehe. In dieser Hinsicht war es tatsächlich ein Schauprozess», urteilt der Historiker.
Dabei gab es durchaus auch kritische Stimmen. Einige Kommentatoren formulierten ihr Unbehagen an dem bevorstehenden Verfahren. Die einflussreiche «Jerusalem Post» etwa schrieb in einem Leitartikel kurz nach Demjanjuks Ankunft in Israel, «um die Wahrheit zu sagen, können sich die Israelis von dem kommenden Prozess nur wenig versprechen». Die Erinnerung an den Holocaust sei präsent in Israel, auch in der Generation, die nach dem Holocaust geboren worden sei, und die Holocaust-Leugner in aller Welt würden sich ohnehin keines Besseren belehren lassen. Und einen Tag nachdem das Verfahren gegen Demjanjuk am 16. Februar 1987 endlich begonnen hatte, druckte das linksliberale Wochenmagazin «Koteret Rashit» auf der Titelseite die Schlagzeile «Wen interessiert das?».
Tatsächlich fand der erwartete Ansturm am ersten Verhandlungstag nicht statt. Nicht wenige der Plätze im provisorischen Gerichtssaal blieben leer, und nach ein paar Tagen begannen sich die Programmplaner des staatlichen Rundfunks Sorgen zu machen, ob bei den Zuschauern überhaupt Interesse an einer täglichen Live-Übertragung bestehe.
Anfangs saßen vor allem Politiker, Repräsentanten von Opferverbänden und Holocaust-Überlebende im Publikum. Die israelische Öffentlichkeit beschäftigte sich stärker mit Claude Lanzmanns Dokumentarfilm «Shoah», der etwa zur selben Zeit in die Kinos kam. Das änderte sich erst, als die Befragung der Augenzeugen – der Holocaust-Überlebenden –begann. Diesen Männern und Frauen zuzuhören, die Treblinka durchlebt hatten und nun unter Schmerzen und Tränen aus der Hölle des Vernichtungslagers berichteten, stockend, schluchzend, um Worte ringend, das schlug die Nation in ihren Bann. «Über Tage und Wochen verfolgte Israel angespannt die Gräuel der Vernichtung, die Treblinka-Überlebende mit haarsträubender Genauigkeit schilderten», schreibt Tom Segev. «Gelegentlich kam es zu hysterischen Ausbrüchen im Saal, einige der Anwesenden fielen in Ohnmacht. Einer der drei Richter erlitt einen Herzinfarkt.»
Äußerlich ungerührt: Demjanjuk auf der Anklagebank, 16. Februar 1987.
Nur einer blieb von alledem äußerlich ungerührt. Demjanjuk saß meist gelangweilt da, eine Stuhlreihe hinter seinen Anwälten, stets bewacht von mehreren Polizisten. Manchmal schlief er ein. Manchmal zog er Fratzen. Manchmal lächelte er. «Er wurde mehr von seinen Hämorrhoiden gequält als von seinem Gewissen», behauptete Staatsanwalt Horowitz später, und er fügte hinzu, im ganzen Gerichtssaal sei ausgerechnet der Beschuldigte die «am wenigsten interessante Person» gewesen, ein Mann von außerordentlich schlichtem Charakter.
Im Zentrum der Anklage stand der Vorwurf, John Demjanjuk, derfür die Dauer des Prozesses in Israel von fast allen Beteiligten wieder «Iwan» genannt wurde, sei als ukrainischer Nazi-Scherge Wächter im Vernichtungslager Treblinka gewesen und habe dort mit infernalischer Grausamkeit für den «reibungslosen» Betrieb der Gaskammern gesorgt. In Treblinka, dem größten der NS-Todeslager in Polen, das zwischen Juli 1942 und August 1943 bestand, wurden deutlich über 700.000 Menschen ermordet, womöglich sogar mehr als eine Million.
Auf zwei Beweise stützte sich die Anklage vor allem:
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