Der Fall Demjanjuk
Erklärung für die Tragödie. Womöglich hat der Anwalt unterschätzt, in welche inneren Konflikte ihn seine neue Aufgabe stürzen würde. Vielleicht haben ihn die Angriffe härter getroffen, als er erwartet hatte. Im Rückblick spricht einiges dafür, dass Eitan dem Druck nicht gewachsen war, der auf ihm lastete. Wer weiß, vielleicht war die Vorstellung, womöglich eben doch den Berserker von Treblinka zu verteidigen, für den renommierten Juristen zu viel.
Eitans Tod, so viel ist sicher, ist ein schwerer Rückschlag für die Verteidigung. Aber er setzt eine bizarre Kette von Ereignissen in Gang, die am Ende Demjanjuk das Leben retten werden.
Wiederum nur zwei Tage nach dem Fenstersturz, am 1. Dezember 1988, wird Dov Eitan auf dem städtischen Friedhof von Jerusalem beigesetzt. Kurz nach Ende der Zeremonie, als die Trauergemeinde gerade auseinanderzugehen beginnt, tritt ein Mann auf Demjanjuks AnwaltYoram Sheftel zu. Es ist Yisrael Yehezkeli, ein siebzigjähriger Holocaust-Überlebender, der den Prozess gegen Demjanjuk regelmäßig besucht hat. Seine ganze Familie ist von den Nazis ermordet worden. Er ist erregt, voller Zorn, er brüllt: «Alles nur Deinetwegen, alles nur Deinetwegen», und dann, ohne Vorwarnung, schüttet er Sheftel Salzsäure direkt ins Gesicht.
Der Anwalt wird sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht. Die Säure hat die Hornhaut seines linken Auges schwer beschädigt, lange bleibt ungewiss, ob Sheftel mit diesem Auge je wieder wird sehen können; erst eine aufwendige Behandlung in einer Spezialklinik in Boston rettet dem Juristen das Sehvermögen. Der Täter, Yisrael Yehezkeli, wird von der Polizei festgenommen, gesteht mit einigem Stolz und wird wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt.
Klänge es nicht so ungeheuer zynisch, könnte man sagen, dass ausgerechnet dieser Anschlag zum Glücksfall für Demjanjuk wird. Denn nach der Säureattacke verschiebt der Supreme Court den Beginn des Revisionsverfahrens um mehrere Monate, zunächst bis November 1989, schließlich bis Mai 1990. Während dieser Zeit kollabiert die Sowjetunion, fällt in Berlin die Mauer, endet der Kalte Krieg. Und in Moskau beginnen sich Archive zu öffnen, die zuvor völlig unzugänglich waren.
Im Dezember 1990 reisen daher die beiden israelischen Staatsanwälte Michael Shaked und Daphna Bainvol nach Moskau, um nach zusätzlichen Informationen zu suchen. Was sie dort entdecken, gibt dem Fall Demjanjuk eine dramatische Wende.
Fast fünfzehntausend Seiten neue Dokumente können Shaked und Bainvol in Russland einsehen. Darunter finden sich die beeideten Aussagen von 37 ehemaligen Wachmännern und Zwangsarbeitern aus dem Vernichtungslager Treblinka, die übereinstimmend erklärten, Iwan den Schrecklichen gekannt zu haben. Dessen richtiger Name aber, so geht aus den Unterlagen hervor, war nicht Iwan Demjanjuk – sondern Iwan Martschenko. Dieser Mann, geboren 1911 im ukrainischen Dnjepropetrowsk, daran lassen die Aussagen keinen Zweifel, hat die Gaskammern von Treblinka betrieben. Einige der Zeugen, unter ihnen ein Mann namens Nikolai Shelaiev, der angab, gemeinsam mit Martschenko an den Gaskammern gearbeitet zu haben, hatten Martschenko zudem aufFotos identifiziert, die wenig Ähnlichkeit mit Demjanjuk aufwiesen. Shelaiev berichtete zudem, er habe Martschenko zuletzt im März 1945 in der Hafenstadt Fiume an der Adria gesehen, wo er sich nach seiner Flucht vor den Deutschen einer Gruppe jugoslawischer Partisanen habe anschließen wollen. Danach verliert sich seine Spur.
Nicht in seinen wildesten Träumen, schreibt Demjanjuks Verteidiger Yoram Sheftel, habe er sich je vorstellen können, dass einmal eine solche Fülle von Entlastungsmaterial auftauchen würde; für ihn steht jetzt außer Frage, dass sein Mandant unschuldig ist und seit Jahren zu Unrecht in einer Einzelzelle festgehalten wird.
Kurz zuvor sind zudem noch weitere Dokumente aus einer geradezu aberwitzigen Quelle aufgetaucht: aus den Müllcontainern eines McDonald’s-Restaurants in der K Street in Washington, D.C. Dort hatten Mitarbeiter des Office of Special Investigations des US-Justizministeriums immer wieder Altpapier entsorgt, darunter auch Unterlagen über die Ermittlungen gegen John Demjanjuk. Die unkonventionelle Aktenvernichtung war einem Journalisten aufgefallen, der einige der Müllsäcke an sich nahm und der Familie Demjanjuk zukommen ließ. In den Tüten fanden Demjanjuks Schwiegersohn Ed Nishnic und sein Sohn
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