Der Fall Demjanjuk
Handschellen muss sich Demjanjuk in einen Dienstwagen der Haftanstalt setzen, der mit ihm zum Ben Gurion-Flughafen rast. Als letzter Passagier besteigt er dort die Business-Klasse eines El Al-Jumbos, der auf dem Rollfeld wartet. Einige der ahnungslosen Mitreisenden empören sich, als sie sehen, wer da einsteigt. Es gibt Gebrüll und Beleidigungen, ein Mann spukt in Demjanjuks Richtung. Eine Reisende, Kochava Eden, die auf dem Fensterplatz gleich hinter dem von Demjanjuk sitzt, steht wütend auf, packt ihre Tasche und verlangt einen anderen Sitz. Um kurz nach ein Uhr in der Früh endlich hebt der Linienflug 001 von Tel Aviv nach New York von israelischem Boden ab. John Demjanjuk habe still gelächelt, notierte ein mitreisender Reporter. Demjanjuk ist wieder ein freier Mann. «Eine Woge der Erleichterung überflutete mich», schreibt Yoram Sheftel in seinen Erinnerungen: «‹Endlich ist es vorbei›, murmelte ich.»
Doch damit sollte Sheftel sich irren.
Es ist nicht vorbei. Der Fall Demjanjuk macht nur eine Pause.
Zweiter Teil: Der Prozess
Der Ermittler
Wer Thomas Walther zum ersten Mal begegnet, denkt nicht an einen harten Ankläger. Ihm fehlt die metallische Präzision eines Juristen. Walther lacht gern, und nicht selten schweift er beim Reden ein wenig ab, sucht nach einem Wort, nach einem treffenden Begriff. Manchmal wirkt das ein wenig unkonzentriert, als sei er ein leicht zerstreuter Professor, ein Historiker, dem zu vieles zugleich durch den Kopf geht. Aber der Eindruck täuscht.
Der 1943 geborene Thomas Walther ist ein Mann von bohrender Hartnäckigkeit. Ein Mann mit einer Mission. Er ist der Ideengeber und Antreiber hinter dem Fall Demjanjuk. Hätte Walther sich nicht in diese Sache hineingegraben, dann gäbe es keinen Prozess gegen Demjanjuk in Deutschland. Ohne den pensionierten Richter aus Wangen im Allgäu säße Demjanjuk vermutlich noch immer daheim in Seven Hills, Ohio, würde den Rasen vor seinem Haus kurz halten, sonntags in die Kirche gehen und vielleicht gelegentlich mit den Enkelkindern spielen.
Thomas Walther ist ein kräftiger, lebhafter Mann. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen, Furchen ziehen sich von seiner Nase hinab bis zu den beiden Mundwinkeln. Die lockigen Haare, in denen sich Blond und Grau mischen, trägt Walther halblang, wie ein Künstler. Oder wie eine Erinnerung daran, dass er einmal ein Linker war, ein Jungsozialist, vor vielen Jahren, während seines Studiums in Hamburg.Der schmale Bart um den Mund lässt den Juristen jünger aussehen, dabei hat er die Sechzig schon überschritten. Sein Leben lang war er in der bayerischen Justiz, als Richter und Staatsanwalt, zuletzt als Strafrichter am Amtsgericht in Lindau. Aber erst in der letzten Phase seiner Karriere hat Walther einen Fall bekommen, der weit über die Provinz hinausweist. Einen Fall, der Rechtsgeschichte schreiben wird, ganz gleich, wie er ausgeht. Den Fall Demjanjuk.
Im September 2006, knapp zwei Jahre vor seiner Pensionierung, lässt sich Thomas Walther vom Amtsgericht in Lindau nach Ludwigsburg versetzen, in die «Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen». Diese kleine, nur wenig bekannte Behörde versucht seit ihrer Gründung 1958, deutsche Kriegsverbrechen und Gewalttaten in den Konzentrationslagern aufzuklären. Eine Handvoll Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte aus allen Bundesländern, die ins schwäbische Ludwigsburg abgeordnet werden, tragen dort Belastungsmaterial gegen Männer (und wenige Frauen) zusammen, die irgendwann, vor vielen Jahren, als sehr junge Menschen womöglich an furchtbaren Verbrechen beteiligt waren. Männer wie John Demjanjuk.
Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle mehr als 7000 Ermittlungsverfahren gegen potentielle NS-Verbrecher eingeleitet, sie hat weit über 100.000 Uberprüfungsvorgänge und Auskunftsersuchen bearbeitet, ihre Zentralkartei enthält gut anderthalb Millionen Einträge über Personen, Tatorte und Einheiten. Das Amt in Ludwigsburg ist so etwas wie das Langzeitgedächtnis der bundesdeutschen Justiz. Eine Einrichtung, deren Aufgabe erst dann ganz erledigt sein wird, wenn der letzte mutmaßliche NS-Verbrecher gestorben ist. Lange ist es nicht mehr bis dahin. Heute sind jeweils noch fünf bis sechs Juristen und ein Dutzend weitere Mitarbeiter bei der Zentralen Stelle beschäftigt, in der Schorndorfer Straße 58, hinter den mächtigen Mauern eines Altbaus, in dem früher einmal ein Frauengefängnis
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