Der Fall Demjanjuk
John jr. zwischen Joghurtbechern und Apfelresten Notizen der Befragung von Otto Horn, einem der wichtigsten Belastungszeugen des OSI. Horn hatte ausgesagt, er habe Demjanjuk auf alten Fotos wiedererkannt und als «Iwan den Schrecklichen» identifiziert. Die OSI-Notizen belegten jedoch, dass die Aussage zweifelhaft und in sich widersprüchlich, vielleicht sogar manipuliert war. Eine Information, die den OSI-Mann George Parker in tiefe Gewissenskonflikte gestürzt hatte – die aber Demjanjuks Anwälten in Amerika und Israel stets vorenthalten worden war.
Als Yoram Sheftel von den Notizen aus dem Müll erfährt, wittert er sofort eine Verschwörung. Tatsächlich bedeutet die Entdeckung einen wichtigen Erfolg für Demjanjuks Verteidigung. Denn sie bestärkt die Zweifel daran, dass Demjanjuk wirklich Iwan der Schreckliche von Treblinka war.
Allein aber hätte der Fund in dem Abfallcontainer in Washington Demjanjuks Schicksal nicht wenden können. Entscheidend dafür sind die Dokumente, die Michael Shaked in Moskau entdeckt hat. Sie lassennur einen Schluss zu: Iwan Demjanjuk ist nicht der, für den ihn das Bezirksgericht in Jerusalem gehalten hat. Er ist nicht das Monster von Treblinka, als das ihn die Holocaust-Überlebenden identifiziert haben. Iwan der Schreckliche, so sagen die sowjetischen Akten, ist ein anderer.
Am 29. Juli 1993, mehr als sieben Jahre nach Demjanjuks Auslieferung an Israel, tritt der Supreme Court in Jerusalem zur Verkündung seines Urteils zusammen. Der Gerichtssaal ist dicht besetzt mit Journalisten, Politikern und Holocaust-Überlebenden. Demjanjuk, mittlerweile 73 Jahre alt, sitzt äußerlich gelassen an seinem Platz, einen Kopfhörer auf dem kahlen Schädel. Kurz vor Beginn der Verhandlung hat er Reportern gesagt, er wolle endlich heim nach Ohio: «Ich vermisse meine Frau. Ich vermisse meine Familie. Ich vermisse meine Enkel. Ich will nach Hause.»
Dann betreten die fünf Richter des höchsten israelischen Gerichts den Saal. Ihr Urteil zählt rund fünfhundert Seiten, aber es widmet sich im Grunde nur einer einzigen Frage: Ist John Demjanjuk der Mann, der unter dem Namen «Iwan der Schreckliche» in Treblinka gewütet hat? «Eine beträchtliche Zahl von Überlebenden des Infernos von Treblinka hat den Angeklagten als Iwan den Schrecklichen identifiziert», heißt es in dem Urteil, «einen der grausamsten Mörder und Peiniger der Juden in Treblinka. Deshalb hat ihn das Bezirksgericht zum Tode verurteilt. Nach dem Ende der Anhörungen im Revisionsverfahren erreichten uns allerdings die Aussagen mehrerer NS-Wachmänner, die von einem anderen Mann sprechen, der Iwan der Schreckliche gewesen sein soll.»
«Wir wissen nicht, wie diese Aussagen zustande gekommen sind und wer sie dokumentiert hat», erklärt der Vorsitzende Richter Meir Shamgar, «aber wir haben sie zugelassen nach der weitesten Auslegung von Recht und Verfahren, und als wir sie studierten, begann ein Zweifel an unserem juristischen Gewissen zu nagen: Vielleicht war der Angeklagte doch nicht Iwan der Schreckliche.»
Sorgsam suchen die Richter jeden Eindruck zu vermeiden, sie hielten die Aussagen der Holocaust-Überlebenden für falsch, gar für unwahr. Die Erinnerungen der Opfer der Shoah in Frage zu stellen, istin Israel mehr als heikel. Aber der Supreme Court zieht immerhin in Erwägung, dass das halbe Jahrhundert, das seit dem Völkermord vergangen ist, und die Widersprüche des spezifischen Falles es unmöglich machen könnten, jemals die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. «Es ist wahr, die Erinnerung an den Holocaust erschüttert jeden Juden zutiefst», schreibt das Gericht, «aber ein Richter muss solche Emotionen überwinden, wenn er sein Urteil zu sprechen hat.»
Yoram Sheftel und John Demjanjuk während des Berufungsverfahrens, 14. August 1991.
Spätestens jetzt ist jedem im Gerichtssaal klar, wie der Supreme Court entscheiden wird. «Wir sprechen den Angeklagten John Demjanjuk wegen vernünftiger Zweifel von den Anklagen frei, die sich gegen Iwan den Schrecklichen aus Treblinka richteten», erklärt der Vorsitzende Meir Shamgar. «Richtern steht es nicht zu, einen Menschen auf Herz und Nieren zu prüfen, ihnen steht nur das zur Verfügung, was ihre Augen sehen und lesen. Der Fall ist abgeschlossen, aber nicht vollendet. Vollkommenheit ist einem Richter aus Fleisch und Blut nicht gegeben.» Einige der Anwesenden stöhnen vor Enttäuschung auf. Eilends führen zwei Dutzend Polizisten Demjanjuk aus dem
Weitere Kostenlose Bücher