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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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leben müssen. Und nun kamen öffentliche Stellen des Staates, in dem sie sich ein neues Leben aufgebaut hatten, und sagten ihnen, man habe den wahren Mörder gefunden und gebe ihnen die Möglichkeit, mit auf seine Bestrafung hinzuwirken. Es war ihre letzte Gelegenheit, sich reinzuwaschen und ihre Verwandten zu rächen. Das war ein guter Grund, die Zeugenaussagen mit Vorbehalt zu betrachten.»
    Am Ende lautet die Frage: Was zählen die Worte eines Überlebenden des Holocaust?
    Freilich, es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung für Rosenbergs Aussage. Niemand hat sie so direkt und drastisch formuliert wie Yoram Sheftel, Demjanjuks israelischer Verteidiger. In seinem Buch über denDemjanjuk-Prozess behauptet Sheftel, Rosenberg habe schlicht gelogen.
    Ein Jahr nach Rosenbergs Auftritt vor dem Jerusalemer Gericht machten Demjanjuks Anwälte eine spektakuläre Entdeckung. In einem Archiv in Warschau fanden sie die Kopie eines 86 Seiten langen Berichts, den Eliahu Rosenberg im Dezember 1945 von Hand geschrieben hatte, in Jiddisch, seiner Muttersprache. Fast dreißig Monate nach seiner Flucht aus Treblinka schilderte Rosenberg darin seine Zeit im Vernichtungslager, den verzweifelten Aufstand der Häftlinge und seine Flucht in die Wälder. Dass der Bericht Demjanjuks Anwälte elektrisierte, ist kein Wunder. Denn auf Seite 66 hatte Rosenberg geschrieben, Iwan der Schreckliche habe den Aufstand in Treblinka nicht überlebt.
    Wenn aber Iwan der Schreckliche tot wäre – müsste dann nicht John Demjanjuk augenblicklich freigelassen und nach Hause geschickt werden, zurück nach Cleveland, Ohio?
    Rosenberg wurde noch einmal in den Zeugenstand geladen. Demjanjuks Anwälte nahmen ihn ins Kreuzverhör, konfrontierten ihn mit seinem eigenen Gedächtnisprotokoll vom 20. Dezember 1945. Ob das seine Handschrift sei, wollten sie wissen. Rosenberg bestätigte es. Und seine Unterschrift? Auch das. Paul Chumak, einer von Demjanjuks Verteidigern, ein besonnener Kanadier mit ukrainischen Wurzeln, forderte Rosenberg auf, die entscheidende Passage laut auf Jiddisch vorzulesen und sie dann ins Hebräische zu übersetzen:
    «Wir verließen die Baracken und griffen die Ukrainer an, die uns bewachten. Danach stürmten wir den Maschinenraum, in dem Iwan schlief. Gustav, der als Erster bei ihm war, schlug ihm mit einem Spaten auf den Kopf. Iwan blieb liegen, für immer.»
    «Mit anderen Worten: Er war tot?», fragte Chumak.
    «Ja, richtig.»
    Ob er das geschrieben habe, fragte Chumak. Ja, sagte Rosenberg, er habe diesen Bericht verfasst.
    «Wie können Sie dann in dieses Gericht kommen und Demjanjuk beschuldigen, er sei Iwan der Schreckliche?», fuhr Chumak den Zeugen an. Habe er nicht in dem Gedächtnisprotokoll vom 20. Dezember 1945 etwas völlig anderes geschrieben? Stehe dort nicht, Iwan derSchreckliche sei während des Häftlingsaufstands in Treblinka getötet worden – derselbe Iwan der Schreckliche, dessen «mörderische Augen» Rosenberg nun vor Gericht in Jerusalem als die Augen des John Demjanjuk identifiziert hatte?
    Ja, sagte Rosenberg, er habe geschrieben, Iwan sei erschlagen worden. Vielleicht sei das ein Fehler gewesen. Denn er sei damals, im August 1943, nicht selbst dabei gewesen, als Iwan der Schreckliche getötet wurde. Er habe nur davon gehört, andere Häftlinge hätten ihm davon erzählt, und er habe ihnen geglaubt. Weil er ihnen habe glauben wollen. «Es war mein größter Wunsch, verstehen Sie? Ich war im Paradies, als ich hörte, Iwan der Schreckliche ist tot. Ich wollte glauben, dass diese Kreatur nicht mehr existiert. Und ich glaubte mit ganzem Herzen daran, dass er liquidiert worden ist. Aber er hat es geschafft, aus dem Lager rauszukommen, zu fliehen und zu überleben – was für ein Glück er hatte!»
    Rosenberg blickte an Chumak vorbei und zeigte auf Demjanjuk: «Denn wenn er nicht solches Glück gehabt hätte, könnte er mir heute nicht gegenübersitzen.»
    Da sprang John Demjanjuk plötzlich auf, riss das Mikrofon seiner Verteidiger an sich und brüllte:
    «Sie sind ein Lügner, Lügner, Lügner!»
    Es ist ein strahlendblauer Morgen in Jerusalem, als am 18. April 1988 das Gericht unter Vorsitz von Dov Levin zusammentritt, um das Urteil gegen John Demjanjuk zu verkünden. Die ersten Neugierigen sind schon um Mitternacht zum Kongresszentrum gekommen, um sich Plätze zu sichern. Wie an jedem Morgen wird Demjanjuk mit einem Polizeibus aus dem Ayalon-Gefängnis ins Gericht gefahren. Aber etwas ist anders

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