Der Fall Demjanjuk
den Angeklagten erwartet, herrscht von Neuem eine kaum erträgliche Spannung. Doch diesmal bewahrt Demjanjuk die Fassung. Als die Richter die Todesstrafe verkünden, zu vollstrecken am Galgen, bekreuzigt sich der Angeklagte dreimal. «Ich bin unschuldig!», ruft er ins Publikum. Die Zuschauer erheben sich, sie stellen sich auf die rot gepolsterten Sitze, sie applaudieren und jubeln: «Am Yisroel Hai!»
«Israel lebt!»
Iwan der Andere
Israel, 1988–1993
Am 27. November 1988, sieben Monate nachdem John Demjanjuk zum Tode verurteilt worden ist, bekommt er in seiner Zelle im Ayalon-Gefängnis Besuch von zwei Männern. Der eine ist Yoram Sheftel, sein Verteidiger, der andere ein Jurist namens Dov Eitan, ein ehemaliger Richter, der aus Protest gegen den israelischen Einmarsch im Libanon sein Amt niedergelegt hatte und nun als Anwalt arbeitet. Die beiden wollen mit Demjanjuk letzte Details für ihren Auftritt vor Israels höchstem Gericht besprechen. Eine Woche später soll der Supreme Court mit der Überprüfung des Todesurteils beginnen. Gemeinsam mit Sheftel will Eitan für Demjanjuks Freilassung kämpfen. Er glaubt, dass der Mann aus Cleveland vor dem Bezirksgericht keinen fairen Prozess bekommen hat, und er zweifelt daran, dass Demjanjuk wirklich Iwan der Schreckliche gewesen ist.
Wenige Wochen zuvor ist Eitan deshalb dem Team von Demjanjuks Anwälten beigetreten. Das ist ein enormer Erfolg für die Verteidigung. Der dreiundfünfzigjährige Eitan genießt unter israelischen Juristen einiges Ansehen, seine Entscheidung findet in den Medien viel Beachtung. Und sein Engagement verspricht eine beträchtliche Erleichterung für Sheftel: Endlich ist er nicht mehr der einzige israelische Rechtsanwalt, der bereit ist, einen vermeintlichen Nazi-Schlächter zu verteidigen. Endlich richten sich der Zorn und die Enttäuschung vieler Holocaust-Überlebender nicht mehr allein gegen ihn. Die ständigenAngriffe, die Beleidigungen, die Opposition von allen Seiten haben Sheftel angespornt, sie haben ihn motiviert zu kämpfen, aber sie haben ihm auch zugesetzt. Nun ist er nicht mehr allein, jetzt hat er einen Partner, der die Attacken mit ihm gemeinsam durchsteht. Jedenfalls hofft er das.
John Demjanjuk in seiner Zelle im Ayalon-Gefängnis, Juni 1993.
Eine Stunde lang diskutieren die beiden Juristen mit Demjanjuk über die Aussichten, dass der Supreme Court das Todesurteil aufhebt. Eindringlich warnen sie ihren Mandanten vor allzu großem Optimismus. Dann, so hat es Sheftel in seinen Erinnerungen an den Prozess notiert, erheben sich die Anwälte, Eitan schüttelt Demjanjuk die Hand und sagt zum Abschied: «Ich hoffe von Herzen, dass Sie ein freier Mann sein werden, wenn wir uns das nächste Mal sehen.»
Die Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Es ist, was keiner der drei ahnen kann, ein Abschied für immer. Demjanjuk und Eitan werden sich nie wieder sehen.
Während John Demjanjuk in seiner Zelle im Ayalon-Gefängnis hockt, Tag um Tag, Nacht für Nacht, zum Nichtstun und Warten verdammt,gerät draußen, vor den Mauern der Haftanstalt, die Welt in Bewegung. Im Sommer 1988 beginnen in Polen Verhandlungen zwischen der Staatsmacht und der noch verbotenen Gewerkschaft «Solidarität». In Demjanjuks alter Heimat, der Sowjetunion, bröckelt die Herrschaft der Kommunisten. Michail Gorbatschow, der neue, reformorientierte KPdSU-Chef, verspricht Glasnost und Perestroika, Europa bewegt sich auf eine Epochenwende zu – langsam noch, aber unaufhaltsam. Und wieder einmal erfasst diese Veränderung auch das Leben des John Demjanjuk, unterirdisch, indirekt, für niemanden vorhersehbar. Wieder kommt er zwischen die Mühlsteine der Geschichte. Aber diesmal, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, profitiert Demjanjuk vom Gang der Weltläufte.
Zwei Tage nach seinem Besuch bei Demjanjuk im Ayalon-Gefängnis, am Morgen des 29. November 1988, betritt Dov Eitan die City Towers im Zentrum von Jerusalem, einen zwanzig Stockwerke hohen Büroturm. Was genau dort passiert, ist ungeklärt. Fest steht nur, dass der ehemalige Richter kurze Zeit später aus der 15. Etage des Hochhauses stürzt und sofort stirbt. Eitans Tod löst Entsetzen aus – und Spekulationen. War es ein Unfall? Ein Verbrechen? Nichts deutet auf einen Mord hin, die Polizei geht bald von einem Suizid aus, aber es hat sich bis heute kein Abschiedsbrief gefunden, und niemand aus Eitans Umfeld hat etwas von Depressionen bemerkt. Dennoch ist Selbstmord vielleicht die plausibelste
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