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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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an diesem Tag. Zum ersten Mal zeigt Demjanjuk Emotionen. Sonst scherzt er mit seinen Bewachern, wirft Kusshände ins Publikum, plaudert mit seinen Anwälten, begrüßt seine Familie. Diesmal nicht. Diesmal verliert er die Fassung. Demjanjuk bricht in Tränen aus, er schluchzt, er weigert sich, den Kleinbus zu verlassen. Alles Zureden der Beamten nutzt nichts, schließlich müssen vier Mann den Angeklagten ins Gericht tragen. Er tritt um sich, er versucht sich loszureißen, er weint, bis ihn die Polizisten in der kleinen Zelle hinter der Bühne auf eine Pritschelegen. Dort wird er liegen bleiben, den ganzen Tag. Das Gericht verkündet seine Entscheidung in Abwesenheit des Angeklagten.
    Weit über vierhundert Seiten zählt das Urteil. Es ist teils in pathetischem Ton gehalten, die Richter schreiben, sie hätten ihren Schuldspruch «in heiliger Ehrfurcht» und «im vollen Bewusstsein der schweren Verantwortung» gefällt. «In heiliger Ehrfurcht – weil wir aufgerufen sind, das bittere Schicksal des jüdischen Volkes in Europa in den finsteren Tagen der grauenhaften Shoah zu untersuchen und den blutigen Weg der Leiden und des Todes zu beschreiten, der getränkt ist mit den Tränen von Millionen Menschen (und in unserem Fall denen von 870.000 Männern, Frauen und Kindern), getötet, gemetzelt, erstickt, verbrannt und vernichtet als Märtyrer von deutschen Mordgesellen und ihren Gehilfen aus anderen Völkern.»
    Ausführlich beschreiben die Richter den nationalsozialistischen Völkermord, sie rekonstruieren die Organisation und den grauenhaften Alltag des Vernichtungslagers Treblinka bis in jedes entsetzliche Detail. Das Urteil sei keine «trockene juristische Stellungnahme» gewesen, schrieb Tom Teicholz später in seinem Buch über den Prozess, «es war, als wollten die Richter den Angeklagten zurückführen an den Ort des Verbrechens. Und sie hatten Erfolg damit.»
    Sorgfältig, Schritt für Schritt, aber mit großer Entschiedenheit, wägen sie die Argumente, die für Demjanjuks vermeintliche Verstrickung in den Holocaust zu sprechen scheinen – und die, die ihn entlasten könnten. Aber nichts, was die Verteidigung im Prozess vorgetragen hat, vermag das Gericht zu überzeugen. Demjanjuks Alibi, er sei als Kriegsgefangener der Deutschen in Chelm gewesen, zerpflücken die Richter, «das ist eine Lüge», eine Geschichte, die nicht glaubhaft sei, durch nichts belegt. Demjanjuks Dienstausweis, über den sich zahllose Gutachter wochenlang gestritten hatten, sei authentisch, befinden die Richter, nichts spreche für eine Fälschung durch den sowjetischen Geheimdienst KGB, wie Demjanjuks Anwälte und Anhänger stets behauptet hatten. Und den merkwürdigen Umstand, dass in diesem Dienstausweis ein Einsatz im Lager Sobibor vermerkt sei, aber keiner in Treblinka, erklärt das Gericht mit der These, Demjanjuk sei zwischen beiden Lagern gependelt; nichts spreche dafür, dass der Angeklagte ausschließlich in Sobibor gewesen sei. Im Übrigen sei nicht der Dienstausweisdas wichtigste Beweisstück, entscheidend sei etwas anderes: «Das Schicksal des Angeklagten wird besiegelt durch die Aussagen der Überlebenden.»
    Viele Tage habe das Gericht die Zeugen beobachtet, Rosenberg, Epstein und die anderen, die die Hölle von Treblinka überlebt hatten. An ihrer Glaubwürdigkeit bestehe kein Zweifel. Rosenbergs Bericht von der Ermordung Iwans des Schrecklichen beruhe nur auf Hörensagen, sei also nicht belastbar. Insgesamt komme der Feststellung der Zeugen, Demjanjuk sei tatsächlich Iwan der Schreckliche aus Treblinka, ein «hohes Maß an Gewissheit» zu.
    Schließlich, nach mehr als zehn Stunden und mehreren kurzen Pausen, kommt der Vorsitzende Richter zum entscheidenden Satz der Urteilsbegründung. Er lautet: «Nachdem wir die Beweise in ihrer Gesamtheit betrachtet und erwogen haben, gewissenhaft, vorsichtig und mit der größten Sorgfalt, sind wir zu der Überzeugung gelangt, einstimmig und ohne Zögern oder den leisesten Zweifel, dass der Angeklagte Iwan John Demjanjuk, der hier vor Gericht steht, Iwan ist, genannt Iwan Grozny, Iwan der Schreckliche, der Mann, der die Gaskammern in Treblinka betrieben hat.»
    Deutlicher kann ein Schuldspruch nicht ausfallen. Demjanjuks Leben, jeder im Gerichtssaal weiß das, ist verwirkt, auch wenn das Strafmaß noch nicht festgesetzt wird.
    Das geschieht eine Woche später. Am 25. April 1988 tritt das Gericht noch einmal zusammen, um die Strafe für Demjanjuk zu verkünden. Obwohl klar ist, was

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