Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
Vom Netzwerk:
Gerichtssaal.
    Obwohl das Urteil nicht unerwartet kommt, bekunden viele Holocaust-Überlebende Zorn und Fassungslosigkeit. Manche weinen vor Schmerz und Wut. Sie haben das Gefühl, das Urteil verbiege die Gerechtigkeit. Efraim Zuroff, einer der wichtigsten Nazi-Jäger in Israel, erklärt nach der Entscheidung des Supreme Court: «Von diesem Prozess wird nicht das 500 Seiten lange Urteil bleiben, sondern die Tatsache, dass Iwan der Schreckliche das Gericht als freier Mann verlässt.»
    Für den Supreme Court, für den israelischen Rechtsstaat insgesamt, ist das Urteil ein ungeheuerer Schritt. Es macht dem Staat Israel tatsächlich «alle Ehre», wie einer der Obersten Richter, Aharon Barak, später einmal formuliert hat. Denn gegen alle Erwartungen, gegen den Druck der Öffentlichkeit, wohl auch gegen die eigene Intuition, hat das Gericht den Angeklagten aus der Haft entlassen. Es ist kein triumphaler Freispruch, darauf legt das Gericht größten Wert. John Demjanjuk wird nicht als Unschuldiger entlassen. Sie hätten überzeugende Beweise dafür gefunden, dass Demjanjuk Wachmann der Nazis in Sobibor und Flossenbürg gewesen sei. «Die Fakten belegen, dass der Angeklagte am Prozess der Judenvernichtung teilgenommen hat», heißt es ausdrücklich in dem Urteil.
    Es ist diese Passage, die bei vielen Israelis Unbehagen auslöst – und die verhindert, dass Demjanjuk sofort auf freien Fuß gesetzt wird. Denn gleich nach Verkündung des Urteils sucht die Staatsanwaltschaft, unterstützt von allerlei Eingaben und Petitionen von Holocaust-Überlebenden, den Fokus der Anklage von Treblinka nach Sobibor zu verschieben. Der Dienstausweis und andere Dokumente bewiesen eindeutig, dass Demjanjuk in den Völkermord verstrickt gewesen sei, wenigstens dafür müsse er zur Rechenschaft gezogen werden.
    Doch der rasche Schwenk misslingt. Mitte August akzeptiert der Supreme Court in Jerusalem eine offizielle Anregung der israelischen Regierung, den Fall Demjanjuk nicht weiter zu verfolgen. Ein neues Verfahren wegen dessen Rolle in Sobibor liege nicht im öffentlichen Interesse, da auch in einem solchen zweiten Prozess der Ausgang völlig ungewiss sei, argumentieren die Regierungsjuristen. Zudem wäre, so heißt es, eine Anklage wegen Sobibor nicht von dem Ausweisungsbefehl der USA gedeckt, der ausschließlich auf Demjanjuks vermeintliche Taten in Treblinka gestützt worden sei. Die offizielle Stellungnahmereflektiert eine verbreitete Stimmung im Lande, die Schluss machen will mit dem vermaledeiten Demjanjuk-Prozess, der sich seit sieben Jahren hinschleppt. Man könnte auch sagen: Niemand interessiert sich mehr für einen kleinen Wachmann Demjanjuk in Sobibor, nun, da sich herausgestellt hat, dass er nicht der bestialische Schlächter von Treblinka ist.

    John Demjanjuk verlässt am 21. September 1993 das Ayalon-Gefängnis und wird zum Flughafen Ben Gurion gebracht.
    Die Revision vor dem israelischen Supreme Court ist ein Sieg des Rechts über alle Emotionen. Der Prozess, der das Land monatelang erschüttert hat, bricht in sich zusammen. Was ein zweiter Fall Eichmann hätte werden sollen, endet in einem Durcheinander von Zorn und Zweifeln. «Der Fall hinterließ das bedrückende Gefühl, dass die üblichen Spielregeln liberaler Rechtsordnung keine effektive Auseinandersetzung mit Naziverbrechen zulassen», hat der israelische Historiker Tom Segev im Rückblick auf den Demjanjuk-Prozess geschrieben. Es klingt resigniert.
    Hätte diese israelische Erfahrung nicht eine Lehre für Deutschland, für den Demjanjuk-Prozess in München, sein müssen?, ließe sich fragen. Aber die Gegenfrage liegt auf der Hand: Hätte man etwa die «üblichen Spielregeln liberaler Rechtsordnung» für die Täter des Holocauständern sollen? Um damit die Nazis womöglich noch einmal, lange nach ihrer Niederlage, über das Recht triumphieren zu lassen? Oder hätte man ganz auf die Anklage von NS-Verbrechern verzichten sollen?
    Am Abend des 21. September 1993, nach siebeneinhalb Jahren in israelischer Haft, wird Demjanjuk freigelassen. Er zieht eine neue blaue Hose an, ein gestreiftes Hemd und eine grüne Windjacke, legt eine kugelsichere Weste an, die ihn vor Anschlägen auf dem Weg zurück in die Vereinigten Staaten schützen soll, und verlässt wenige Minuten nach Mitternacht das Ayalon-Gefängnis, begleitet von seinem Sohn John Jr., seinem Schwiegersohn Ed Nishnic, dem US-Kongressabgeordneten James A. Traficant und zwei privaten Bodyguards. Immer noch in

Weitere Kostenlose Bücher