Der Fall Demjanjuk
untergebracht war.
Dort, im ersten Stock, Zimmer 109, dem Dienstzimmer von Thomas Walther, beginnt im Februar 2008 der letzte Akt im Fall Demjanjuk. Wenige Monate hat Walther noch bis zum Ruhestand. Er könnte schon beginnen, den Schreibtisch aufzuräumen und die Tage zu zählen, dochdie Arbeit der Zentralen Stelle hat ihn gefangen genommen. Er bohrt und gräbt, er stört sich an der bürokratischen Routine, dem Historikerdenken, das er bei manchen Kollegen wahrzunehmen meint. Walther will noch einmal an konkrete Fälle heran, an die Täter von damals, wie ein Detektiv. Gerade spürt er einer Fünfundachtzigjährigen nach, die im Verdacht steht, als Hundeführerin im KZ Ravensbrück grausam gewütet zu haben. Da wirft plötzlich das Suchprogramm von «Google», das sich Walther eigens eingerichtet hat, einen vertrauten Namen aus. Auf der Website des US-Bundesgerichts in Cincinnati findet Walther unter dem Aktenzeichen 08a0054p.06 eine Entscheidung vom 30. Januar 2008 gegen – John Demjanjuk.
Wie Detektive bei der Arbeit: Thomas Walther und seine Kollegin Kirsten Goetze untersuchen den Dienstausweis von John Demjanjuk.
Ausgerechnet John Demjanjuk. Der Mann, dem Israel Mitte der achtziger Jahre schon einmal den Prozess gemacht hatte. Der in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde und fünf Jahre in der Todeszelle gesessen hatte. Der Demjanjuk, den Israel nach einer juristischen Kehrtwende sondergleichen freilassen und in ein Flugzeug zurück in die USA setzen musste. Dieser John Demjanjuk.
«Ich war geplättet», sagt Walther im Rückblick, «ich musste dassofort lesen. Ich wollte wissen, was ihm die Amerikaner vorwerfen und welche Beweise sie haben.» Noch am selben Tag schreibt er eine Email an Eli Rosenbaum, den Chef des OSI, jener Dienststelle in Washington, die mutmaßliche NS-Verbrecher in den USA aufzuspüren versucht. Was habt ihr gegen Demjanjuk in der Hand, will Walther von seinem amerikanischen Kollegen wissen, wann ist sein Prozess zu Ende? Und wohin wollt ihr ihn dann abschieben? Womöglich nach Deutschland?
1993 ist Demjanjuk in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, in sein altes, alltägliches Leben. Weil das Office of Special Investigations nicht sauber gegen ihn ermittelt hatte, weil entlastende Beweise zurückgehalten worden waren, entscheidet der Bundesrichter Paul Matia im Februar 1998, Demjanjuk könne seine US-Staatsangehörigkeit zurückerhalten, als Wiedergutmachung sozusagen. Aber, schreibt der Richter, sollten sich neue Beweise gegen den Mann aus Seven Hills finden, dann könnten die amerikanischen Behörden durchaus ein neues Verfahren gegen ihn einleiten. Und genau das tun die Ermittler des US-Justizministeriums, wohl auch, um ihre verheerende Pleite, Demjanjuks Freispruch in Israel, zu korrigieren. Nur vierzehn Monate nach der Entscheidung von Paul Matia beginnen die Männer des OSI von Neuem mit Recherchen. Nicht mehr wegen Treblinka. Sondern wegen des Verdachts, Demjanjuk sei Wachmann in Sobibor und Flossenbürg gewesen. 2001 wird der Einundachtzigjährige erneut angeklagt, drei Jahre später entscheidet ein US-Gericht, ihm seine Staatsbürgerschaft zum zweiten Mal zu entziehen. Einer seiner vielen Einsprüche dagegen scheitert im Januar 2008. Es ist diese Entscheidung, die Thomas Walther kurz vor seiner Pensionierung im Internet entdeckt.
Ein jüngerer Kollege, sagt Kurt Schrimm, der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle, Thomas Walthers Vorgesetzter, hätte mit dem Namen Demjanjuk vielleicht gar nichts mehr anfangen können. Aber Walther kann sich erinnern. An den Prozess in Israel. Und daran, dass Demjanjuk ganz oben steht auf der Liste der meistgesuchten Kriegsverbrecher des Simon Wiesenthal Centers. Verdächtig der Beihilfe zum zigtausendfachen Judenmord im NS-Vernichtungslager Sobibor in Polen.
Thomas Walther ahnt, dass er da auf etwas gestoßen ist. Auf etwas Bedeutendes vielleicht. Auf einen Fall, der die amerikanische und dieisraelische Justiz seit Jahrzehnten umtreibt. Und der jetzt womöglich in Deutschland zu Ende gebracht werden könnte. Wenn die Amerikaner ihn abschieben. Wenn es Walther gelingt, die Sache nach Deutschland zu holen. Und wenn sich ein Weg findet, Demjanjuk in der Bundesrepublik anzuklagen. Leicht wird das nicht, das weiß Walther. Im Gegenteil, vieles spricht dagegen, juristische Schranken ebenso wie politische Bedenken. Seit über dreißig Jahren beschäftigt Demjanjuk Juristen in aller Welt, aber noch nie hat ein deutscher Staatsanwalt eine
Weitere Kostenlose Bücher