Der Fall Demjanjuk
Anklageschrift gegen ihn verfasst. Das ist kein Zufall.
Tatsächlich ist die Bundesrepublik nicht automatisch für jedes vermeintliche NS-Verbrechen zuständig. Eine Tat kann in Deutschland nur angeklagt werden, so steht es im Strafgesetzbuch, wenn der mutmaßliche Täter entweder deutscher Staatsbürger ist, wenn die Tat auf deutschem Boden begangen wurde oder wenn eines der Opfer Deutscher war. Alle drei Punkte aber stehen in Demjanjuks Fall in Zweifel.
Sosehr er auch von den Stürmen der Geschichte über die Kontinente gefegt worden war, von der Ukraine nach Deutschland, in die Vereinigten Staaten, nach Israel und wieder zurück in die USA – einen deutschen Pass hat Demjanjuk in all den Jahren nie besessen. Und ob man ihn, weil er möglicherweise als Wachmann in deutschen Diensten gestanden hatte, wie einen deutschen «Amtsträger» behandeln könnte, für den ebenfalls deutsches Strafrecht gelten würde, das ist mehr als ungewiss. Schon gar nicht lässt sich von einer Tat auf deutschem Territorium sprechen. Das Lager Sobibor lag im Osten des damals besetzten Polen, im sogenannten Generalgouvernement, einer Art Protektorat der Nazis, das sogar nach Einschätzung von NS-Juristen nicht Teil des Reichsgebietes geworden war. Bliebe der letzte Anknüpfungspunkt: Um eine Zuständigkeit der deutschen Justiz begründen zu können, müssten unter den Opfern von Sobibor deutsche Juden gewesen sein. Hier sollten später Walthers Recherchen ansetzen.
Doch selbst wenn sich ein Weg fände, deutsches Recht anzuwenden – bestünde dann auch Aussicht, dass Demjanjuk verurteilt würde? Würden sich noch genug Beweise finden, fast siebzig Jahre nach dem Holocaust? Beweise dafür, dass Demjanjuk tatsächlich in Sobibor gewesen ist und sich dort am Morden beteiligt hat? Beweise, die den strengen Anforderungen des deutschen Strafprozesses genügten?
Vieles spricht dagegen, auch das weiß Thomas Walther. In all den Jahren der Ermittlungen hat sich kein Schriftstück gefunden, das Demjanjuk konkret belastet. Kein Zeuge aus Sobibor hatte ihn wiedererkannt. Die wenigen Uberlebenden, längst hochbetagt, konnten sich an Demjanjuk nicht erinnern. Und mehr noch, das Scheitern des Prozesses in Israel hat gezeigt, wie heikel jedes Urteil ist, wie umstritten die wenigen Dokumente sind, die es nach so vielen Jahren noch gibt, und wie problematisch selbst die Aussagen von Augenzeugen des Massenmordes sein können.
Die meisten Ermittler hätten die Akte Demjanjuk deshalb wahrscheinlich recht bald wieder weggelegt. So wie es die Mitarbeiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg tatsächlich getan haben. Schon lange vor Thomas Walthers Entdeckung im Internet existierte in der Zentralen Stelle eine «Beobachtungsakte» über John Demjanjuk, Aktenzeichen 110 AR 328/83, eine Zusammenstellung von Erkenntnissen und Berichten über einen mutmaßlichen Nazi-Schergen unter Tausenden. Nach Demjanjuks Rückkehr in die Vereinigten Staaten 1993 wurde in der Beobachtungsakte notiert: «Demjanjuk war nicht in Treblinka – jedoch in Sobibor. Keine Erkenntnisse über Einzeltaten.»
Ein Jahr später, am 4. März 1994, nimmt sich ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle erneut der Sache an. Der zuständige Staatsanwalt hält in einem Vermerk fest: «Meines Erachtens ergibt sich der Einsatz von Demjanjuk in Sobibor aus seinem Dienstausweis. Er wurde von einem israelischen Sachverständigen als echt befunden.» Konsequenzen aber hat diese Einschätzung nicht. «Von der Einleitung eines Vorermittlungsverfahrens gegen Demjanjuk kann abgesehen werden, weil kein Anhaltspunkt dafür besteht, ihn konkret belastendes Beweismaterial zu finden. Aus Unterlagen der Zentralen Stelle […] ergibt sich gegen ihn kein Tatverdacht.»
«Keine Erkenntnisse über Einzeltaten», «kein Tatverdacht» – das bedeutet in aller Regel: keine Ermittlungen und keine Anklage. Denn es reicht nicht für eine Mordanklage, dass einer SS-Mann oder KZ-Wächter war. Es braucht Hinweise auf eine konkrete, einzelne Tat mit einer genau zu beschreibenden Handlung, möglichst mit exaktem Tattag und vielleicht sogar mit den Namen der Opfer. Jedenfalls war das die herrschende Meinung unter den Juristen – an den deutschenGerichten und in Ludwigsburg. Deshalb hat die Zentrale Stelle gegen «fremdvölkische» NS-Schergen aus dem Baltikum, aus Ungarn, Rumänien oder aus der Ukraine, die ganz unten in der Befehlshierarchie der Todeslager standen, fast keine Verfahren in Gang gesetzt. Eben weil es an
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