Der Fall Demjanjuk
der beiden Verdächtigen in einem Brief an die US-Parlamentarier ab. Begründung: Weder Hajda noch Tittjung seien deutsche Staatsangehörige gewesen, Deutschland sei daher nicht für sie zuständig.
Eli Rosenbaum hat sich über diese Haltung wiederholt bitter beklagt, gelegentlich sogar öffentlich. Europa habe «seine moralische und juristische Verantwortung in den Nazi-Fällen weitgehend negiert», sagte Rosenbaum in einem Vortrag und warf zumal Deutschland vor, es «blockiere beharrlich» alle amerikanischen Bemühungen, «Nazi-Verbrecher nach Europa zurückzuschicken».
Muss die Bundesrepublik jeden alten Mann aufnehmen, den die Amerikaner loswerden wollen? Natürlich nicht. Es gibt kein Gesetz, auch kein internationales Abkommen, das ein Land verpflichten würde, Menschen aufzunehmen, die aus Amerika deportiert werden sollen. Berlin aber sperrte sich nicht allein aus juristischen Gründen. Es ging immer auch um Politik. Was wäre, das war die Sorge der Bundesregierung, wenn einmal nach Deutschland ausgelieferte NS-Schergen hier angeklagt, dann aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden müssten, um schließlich ihre letzten Jahre unbehelligt in der Bundesrepublik zu verbringen, in irgendeinem Altenheim in Oberbayern oder an der Ostsee – vermutlich auf Staatskosten? Die Weltpresse würde über die Bundesrepublik herfallen. Es gelte, heißt es in einem internen Vermerk des Auswärtigen Amtes, den Eindruck zu vermeiden, «Deutschland biete Personen mit Nazi-Vergangenheit Schutz und Unterschlupf». Der vertrauliche Vermerk vom 22. Juni 2004 trägt die Uberschrift «Abschiebung von Kriegsverbrechern aus dem Zweiten Weltkrieg».
Ein Jahr vor dem gereizten Briefwechsel zwischen Berlin und Washington reist der Leiter der Zentralen Stelle, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, im Sommer 2003 mit einer Mitarbeiterin nach Washington. Zur Pflege der Kontakte, vielleicht aber auch, um den Amerikanern guten Willen zu signalisieren. Zwanzig Akten legen ihm die amerikanischen Kollegen vom OSI vor, Belastungsmaterial über zwanzig Verdächtige aus Osteuropa, die die US-Ermittler für NS-Verbrecher halten.Einer von ihnen ist «Demjanjuk, John, geboren 1920 in Dubowi Macharynzi».
Zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus Washington, am 20. August 2003, schreibt Kurt Schrimm einen Vermerk über die gewonnenen Erkenntnisse. Zu Demjanjuk notiert er: «War Wachmann in Trawniki, Okzow, Majdanek, Subibor (sic) und Flossenbürg 1942–1945. In den amerikanischen Unterlagen wird beschrieben, was in den einzelnen Lagern geschah und dass Demjanjuk hierbei beteiligt gewesen sein soll. Demjanjuk erscheint auf verschiedenen ‹Lagerlisten› und Versetzungslisten von einem Lager in das andere.»
Schließlich fasst Schrimm die Erkenntnisse zusammen. Unter der Überschrift «Tatvorwurf» schreibt er: «Ein individueller Tatvorwurf ist aus den vorgelegten Unterlagen nicht ersichtlich.» Schrimm unterzeichnet den Vermerk, gibt ihn zu den Akten, die Akten gehen ins Archiv, und John Demjanjuk fristet weiter sein Rentnerdasein in Seven Hills, Ohio.
Kein individueller Tatvorwurf, keine Ermittlungen, keine Anklage. Und also keine Chance, den Mann aus Ohio nach Deutschland zu holen. Das ist die Ludwigsburger Linie. Und es ist der Stand der Dinge, als Thomas Walther im Februar 2008 den Fall Demjanjuk wiederentdeckt.
Doch der Richter kurz vor dem Ruhestand will sich damit nicht abfinden. Er will einen Weg suchen, Männern wie Demjanjuk doch noch den Prozess zu machen, auch in Deutschland. Er will verhindern, dass all die Hinweise und Indizien, die im Laufe von dreißig Jahren gegen Demjanjuk zusammengetragen worden sind, am Ende ohne Konsequenz bleiben. Thomas Walther will Demjanjuk in Deutschland anklagen lassen – oder wenigstens gründlich prüfen, welche Chancen eine solche Anklage hätte. Ein fast schon größenwahnsinniges Unterfangen. Denn dazu muss Walther die langjährige Entscheidungspraxis seiner Behörde revidieren und die Haltung des Auswärtigen Amtes in Berlin in Frage stellen.
Zu Hilfe kommt ihm dabei ausgerechnet der Bundespräsident. Das damalige Staatsoberhaupt Horst Köhler soll im Dezember 2008 im Ludwigsburger Schloss sprechen, als Ehrengast beim Festakt zum fünfzigstenGründungstag der Zentralen Stelle. Walther graust es bei der Vorstellung, der Präsident komme und die Zentralstelle habe gegen Demjanjuk nichts unternommen, habe nicht einmal mit Ermittlungen begonnen. Also spricht Walther seinen Chef Kurt Schrimm an,
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