Der Fall Demjanjuk
Vernichtungslager, wurden wohl an die 700.000 Menschen umgebracht, in Belzec kamen nach neueren Untersuchungen weit über 400.000 Menschen ums Leben. Die «Aktion Reinhard» endete nach Häftlingsrevolten in Treblinka und Sobibor im Herbst 1943. Auf Befehl Himmlers wurden die Bauten auf dem Lagergelände von Sobibor zerstört oder abtransportiert, der Boden wurde umgepflügt und mit einem Kiefernwald bepflanzt. Keine Spur sollte mehr an den Ort des Verbrechens erinnern.
Wer nach Sobibor kam, so hat es der Kölner Strafrechtler Cornelius Nestler im Prozess in München einmal formuliert, dessen Tod sei so unausweichlich gewesen wie der Tod eines Menschen, auf dessen Kopf aus nächster Nähe ein Gewehrschuss abgefeuert wurde.
Dieses System des Massenmordes kannte keine Arbeitsteilung. «Wenn man, sofern das überhaupt möglich ist, das Lager auf wenige Begriffe reduziert, dann bleibt ein hermetischer Raum mit zwei Gruppen», erklärte Thomas Walther vor Gericht seinen Ansatz: «Eine eher kleine Gruppe, die tötet. Und eine riesige Gruppe, definiert allein durch ihren jüdischen Glauben und ihre jüdische Kultur, die getötet wird.»
Wann immer ein neuer Transport in Sobibor eintraf, wurden die kaum zwanzig bis dreißig deutschen SS-Männer, ihre hundert bis hundertfünfzig ukrainischen Handlanger und die unglücklichen jüdischen Hilfskräfte zu menschlichen Rädchen in der Tötungsmaschinerie. Einige der Trawniki sicherten die Lagerzäune, einige stiegen auf die Wachtürme, und alle Übrigen wurden eingesetzt, um ihre Opfer aus den Zügen zu jagen und ins Gas zu treiben.
Niemand konnte sich entziehen, so argumentieren Walther und später auch die Münchner Staatsanwaltschaft, niemand konnte abseitsstehen, jeder SS-Mann, jeder Trawniki musste Hand anlegen beim massenhaften Morden. «Wenn ein Judentransport ankam, wurde die regelmäßige Beschäftigung eingestellt», heißt es in der Anklageschrift, «und jeder Angehörige des Stammpersonals war an dem routinemäßigen Vernichtungsvorgang beteiligt.»
Jeder.
Das ist das entscheidende Wort.
Das ausgeklügelte, ganz auf Einschüchterung und Effizienz angelegte System des massenhaften Tötens schloss alle SS-Männer und alle Trawniki ein. Jeder, ausnahmslos jeder, der in Sobibor war, war am Morden beteiligt. Es gab kein Abseitsstehen, kein Wegducken. Es gab keine Unschuldigen in Sobibor. Die Fabrik, so Walther, «ist die Tat».
Das ist der Kern des Arguments. Es ist eine kühne Konstruktion. Sie läuft darauf hinaus, dass jeder, der einen Beitrag zum Funktionieren des Vernichtungslagers geleistet hat, unweigerlich zum Gehilfen des Massenmordes wird: in letzter Konsequenz auch der Lokführer der Reichsbahn, der die Züge von Westerbork nach Sobibor gefahren hat – jedenfalls dann, wenn er wusste, was mit den Juden in Sobibor geschah, und das auch guthieß.
Und die Konstruktion hat etwas Entlastendes, jedenfalls für die Anklage. Denn wenn es eine solch unerbittliche, lückenlose Tötungsroutinein Sobibor gab, dann kommt es auf den Nachweis einer individuellen Handlung nicht mehr an. Dann muss dem Angeklagten John Demjanjuk nicht die Beihilfe zu einem bestimmten Mord bewiesen werden, mit Tattag, Tatumständen, mit Name und Geburtsdatum des Opfers. Dann genügt für einen Schuldspruch der Beweis, dass Demjanjuk Teil des Systems von Sobibor war. Oder, noch genauer: es genügt der Beweis, dass Demjanjuk überhaupt als Wachmann in Sobibor war. Der Dienst im Vernichtungslager wird «gleichgesetzt» mit «Beihilfe zum Mord», wie der Frankfurter Strafrechtler Cornelius Prittwitz formuliert hat.
Fritz Bauer am Schreibtisch seines Dienstzimmers in den 1960er Jahren.
Zum ersten Mal erscheint ein Prozess überhaupt möglich.
Es hat eine Weile gedauert, bis dieser Gedanke heranreifte, bis er sich herausschälte aus den Überlegungen, wie eine Anklage gegen John Demjanjuk formuliert werden könnte. Aber als die Idee einmal ausformuliert war, als sie in der Zentralen Stelle schließlich eine Mehrheit gefunden hatte, muss sie von fast verführerischer Kraft gewesen sein.Nicht etwa, weil sich nun eine Chance auftat, Demjanjuk doch noch vor Gericht zu bringen, oder jedenfalls nicht deshalb allein. Der Ansatz bot vielmehr eine juristische Konstruktion, die dem Mordsystem der Nazis adäquat schien, die das bürokratisch-mechanische Zusammenwirken in der Vernichtungsmaschinerie in den Griff zu bekommen versprach. Der Ansatz eröffnete damit eine Aussicht, endlich nachzuholen,
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