Der Fall Demjanjuk
sondern bloß Gehilfe der eigentlichen Mörder Hitler, Himmler und einiger weniger anderer fanatischer Nationalsozialisten. Mulka habe auf Befehl gehandelt, sei nur ein «Rädchen im Getriebe» gewesen – und Judenhass lasse sich bei ihm auch nicht feststellen.
Im Grunde stellte dieses Urteil die Realität von Auschwitz auf den Kopf: Die schwerste Strafe traf nicht die Organisatoren und Kommandeure des hunderttausendfachen Tötens, sondern einen atypischen Einzeltäter.
Schon in den sechziger Jahren wurde dieses Ergebnis heftig kritisiert. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer klagte, das Gerichthabe das kollektive Geschehen in Auschwitz durch Atomisierung und Parzellierung in lauter Einzelakte gleichsam «privatisiert» – und damit entschärft. Die Auflösung des Massenmords in Episoden gleiche einer «Vergewaltigung des totalen Verbrechens», das eben viel mehr gewesen sei als nur die Summe von Einzeltaten.
Vierzig Jahre später nun denkt Walther in eine ähnliche Richtung. Wie lässt sich das Charakteristische des Holocaust mit den Mitteln des Strafrechts erfassen? Wie lässt sich das Industrielle des Tötens anklagen? Den Hebel dafür findet Walther in Sobibor selbst. Entscheidend, so sagte er später vor dem Landgericht München, sei für ihn die Frage geworden: «Was ist ein Vernichtungslager?»
Tief in den Wäldern Südost-Polens, unweit der damaligen Grenze zur Sowjetunion, hatte der «SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin», der fanatische Antisemit und Nationalsozialist Odilo Globocnik, mit Zustimmung Himmlers im November 1941 mit dem Bau von drei Lagern begonnen, die der «Säuberung des Generalgouvernements von Juden» dienen sollten. Im März 1942 begann der Massenmord im Vernichtungslager Belzec, im Mai 1942 erreichten die ersten Transporte Sobibor, und zwei Monate später, im Juli 1942, begann das industrialisierte Töten auch im Lager Treblinka. Der Judenmord, der nun in einer bis dahin unbekannten Dimension anlief, trug den Tarnnamen «Aktion Reinhard», der sich ursprünglich auf den Staatssekretär Fritz Reinhardt bezog, später aber auf den im Juni 1942 in Prag ermordeten Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, umgedeutet wurde.
Anders als die meisten KZs der Nationalsozialisten waren die drei Lager von Anfang an nur zu einem einzigen Zweck errichtet worden: zur «reibungslosen» Tötung von möglichst vielen Menschen. Wie die anderen Lager der «Aktion Reinhard» war Sobibor ein reines Vernichtungslager. Es gab dort, anders als in Auschwitz, so gut wie keine Zwangsarbeit, keine medizinischen Experimente, keine politischen Häftlinge, sondern nur ein grauenhaft effektives System des Massenmordes. Der Unterschied zeigte sich auch organisatorisch: Die drei Vernichtungslager unterstanden nicht der KZ-Verwaltung in Oranienburg bei Berlin.
Die Todgeweihten, Juden aus dem besetzten Polen vor allem, aberauch Tausende niederländische Juden, die nach tagelangen Transporten in Viehwaggons in Sobibor ankamen, wurden sogleich aus den Zügen ins Lager getrieben. Die Männer wurden von den Frauen und Kindern getrennt, alle mussten ihr Gepäck und ihre Wertsachen abgeben, sie mussten sich in rasender Eile ausziehen, den Frauen wurden die Haare abgeschnitten, und schließlich wurden die nackten Opfer durch einen schmalen, von Stacheldraht umschlossenen Gang, den sogenannten Schlauch, direkt in die Gaskammern getrieben, vorgeblich, um «aus hygienischen Gründen» ein «Brausebad» zu nehmen.
An die achtzig Menschen wurden in eine Kammer gepfercht, die kaum mehr als vier mal vier Meter maß, die Türen wurden hermetisch verschlossen und Abgase eines erbeuteten sowjetischen Panzermotors in die Kammern geleitet. Nach zwanzig, spätestens nach dreißig Minuten waren die Eingeschlossenen qualvoll erstickt. Jüdische Hilfskräfte mussten die bizarr verdrehten, mit Kot und Erbrochenem beschmierten Leichen aus den Gaskammern herausholen und abtransportieren, anfangs in Massengräber, später wurden die Toten in einem improvisierten Krematorium verbrannt.
Mitunter, wenn ein besonders großer Transport in Sobibor eintraf, wurde der Zug geteilt, und die zweite Gruppe der eben Angekommenen musste in den Waggons eingeschlossen so lange warten, bis die erste Gruppe ins Gas gehetzt und ermordet worden war.
Wie viele Menschen insgesamt in Sobibor starben, lässt sich kaum mehr genau klären. Schätzungen gehen von mindestens 250.000 Opfern aus. In Treblinka, dem größten der drei
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