Der Fall Demjanjuk
woran der große Fritz Bauer, der Ankläger der Auschwitz-Prozesse, gescheitert war.
Der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk ist, rechtshistorisch betrachtet, wohl auch der Versuch einer Vollendung. Ein Versuch, die Fehler der Nachkriegszeit zu vermeiden, endlich richtig zu machen, was lange falsch lief. Nur: Ist ausgerechnet John Demjanjuk der richtige Angeklagte für eine solche nachholende Korrektur der Rechtsgeschichte?
Und ist die «Gleichsetzung» von Anwesenheit im Vernichtungslager und Beihilfe zum Mord überhaupt haltbar? Nimmt sie nicht allzu leicht Abschied vom «Tatprinzip» des deutschen Strafrechts? Stellt sie nicht mindestens die etablierte Entscheidungspraxis der Zentralen Stelle in Ludwigsburg in Frage, die ja nicht ohne Grund gleich mehrfach die Einleitung eines Vorermittlungsverfahrens gegen Demjanjuk abgelehnt hatte – eben weil es keine Anhaltspunkte für eine konkrete Tat gegeben habe? Und stimmt nicht auch, was der niederländische Strafrechtler Christiaan Rüter gegen den Demjanjuk-Prozess einwendet, dass nämlich bei vergleichbarer Beweislage deutsche NS-Täter von bundesdeutschen Gerichten stets freigesprochen worden seien?
Tatsächlich ist die gewählte Konstruktion ein Bruch mit dem bisher üblichen. Aber ist es wirklich ein Abschied vom Tatprinzip, was die Münchner Anklage versucht? Werden eherne Grundsätze aufgegeben, wird «juristisches Neuland» betreten, wie ein Prozessbeobachter schrieb?
Auf den ersten Blick scheint es so. Immerhin hat ja Thomas Walther selbst davon gesprochen, aus «überkommenen Denkstrukturen» ausbrechen zu wollen. Aber, so lässt sich entgegnen, neu ist nicht in erster Linie die juristische Konstruktion, neu ist der Blick auf Sobibor. Neu ist die Beurteilung, dass ein Vernichtungslager anders funktioniert habe als die anderen Konzentrationslager. Und wenn diese Einsicht historisch korrekt ist, wenn es zutrifft, dass das System von Sobibor auf perverseWeise «perfekt» geschlossen war, dass es unweigerlich jeden Wachmann zum Mordgehilfen machte – dann geht es nicht um irgendeine abstrakte Kollektivschuld, dann geht es vielmehr um die konkrete Einzelschuld jedes einzelnen Individuums, das Teil der Wachmannschaften von Sobibor war. Dann gibt es doch eine hinreichend konkrete Zurechnung von Tat und Täter.
Es bleibt aber der zweite Einwand, den vor allem Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch im Prozess immer wieder vortragen wird: Wie kann es sein, dass Demjanjuk jahrelang von der Zentralen Stelle ignoriert wurde, weil es keinen konkreten Tatverdacht gegen ihn gegeben habe, um jetzt, als Greis, in seinem mutmaßlich letzten Lebensjahrzehnt, plötzlich verfolgt zu werden? Kann, was jahrelang richtig war, auf einen Schlag falsch werden, nur weil ein neuer Ermittler mit einer neuen Theorie daherkommt?
Der dritte Einwand gegen Thomas Walthers Ermittlungsansatz ist eine Variation des zweiten. Er vergleicht nicht die unterschiedlichen Strategien der Zentralen Selle miteinander, sondern fragt nach der Vergleichbarkeit mit anderen Fällen: Wie ist zu rechtfertigen, dass ein einzelner ukrainischer Wachmann energisch verfolgt wird, nachdem seine Vorgesetzten, so sie überhaupt vor Gericht gestellt wurden, mit relativ milden Strafen davonkamen? Und nachdem jahrzehntelang auf die Verfolgung solcher Hilfswilliger aus Osteuropa verzichtet wurde? Die «fremdvölkischen Wachmannschaften» hätten in den Sobibor-Prozessen in den sechziger Jahren keine Rolle gespielt, wird ein damals beteiligter Richter später vor Gericht in München bestätigen. Und Demjanjuks Verteidiger Busch wird behaupten, die Verfolgung von John Demjanjuk sei ein gigantischer Versuch, deutsche Schuld abzuwälzen auf osteuropäische Gehilfen.
Aber die Gegenargumente gegen diese Deutung drängen sich geradezu auf: Soll man wirklich fordern, dass eine Rechtsprechung, die wir längst für falsch und beschämend halten, fortgesetzt wird? Soll auf die Verfolgung von NS-Tätern auch weiter verzichtet werden, weil sich die bundesdeutsche Justiz viel zu lange um eine angemessene Bestrafung herumgedrückt hat, aus Mangel an Einsicht, aus Standesdünkel und um nicht die eigene Rolle in der Diktatur in Frage stellen zu müssen? «Nicht nur Menschen allgemein und also auch Richter, sondern auchdie Justiz kann (und soll sogar) klüger werden», schreibt der Frankfurter Strafrechtler Cornelius Prittwitz in seinem Aufsatz zum Demjanjuk-Prozess, und er fügt apodiktisch hinzu: «Es gibt eben grundsätzlich keine
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