Der Fall Demjanjuk
«Amtsträger» geworden, und auch deshalb sei die deutsche Justiz für seine Strafverfolgung zuständig.
Weitaus vertrackter ist das zweite Problem: der Nachweis einer konkreten Tat. Einiges sprach nach den Erkenntnissen der amerikanischen Fahnder dafür, dass Demjanjuk in Sobibor gewesen war. Aber wird es fast siebzig Jahre später auch gelingen zu beweisen, dass er dort am Töten beteiligt war? Und zwar nicht nur irgendwie beteiligt, sondern mit einer genau zu beschreibenden Handlung, mit exaktem Tattag, vielleicht sogar mit dem Namen des Opfers?
Ein solcher Nachweis ist Voraussetzung für eine Verurteilung. Das ist ein Fundamentalprinzip des deutschen Strafrechts: Verurteilt und bestraft werden kann nur, wer selbst, sozusagen mit eigenen Händen, Unrecht getan hat. Schuld und Strafe sind etwas Individuelles, Höchstpersönliches, und deshalb verlangen sie auch eine individuelle Tat: den Finger am Abzug, den Griff nach der Diebesbeute, die ganz konkrete Hilfe bei einem Einbruch oder einem Mord. Ohne «Tat» gibt es keinen «Täter». Und keine Strafe. Böse Absichten allein genügen so wenig wie die bloße Mitgliedschaft in einer Organisation wie der SS. Und es gibt im deutschen Strafrecht auch keinen Straftatbestand, der dem «Joint Criminal Enterprise» gleichkäme, einer juristischen Konstruktion des UN-Jugoslawien-Tribunals in Den Haag, nach der jedes Mitglied einer organisierten Gruppe individuell verantwortlich ist für die Verbrechen, die von der Gruppe im Rahmen des gemeinsamen Planes begangen werden.
Um Demjanjuk vor Gericht zu bringen, braucht es also einekonkrete Tat. Für die aber fehlen alle Belege. Es gibt keine Zeugen, keine Dokumente, und Demjanjuk selbst hat stets alle Vorwürfe bestritten. Muss man ihn also unbehelligt in Cleveland leben und sterben lassen, obwohl eine Menge dafür spricht, dass er Wachmann im Vernichtungslager Sobibor war, einer der Mordmaschinen der Nazis?
Eröffnung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses am 20. Dezember 1963.
Ohne Tat kein Täter.
Thomas Walther will sich mit dieser Logik nicht abfinden. Er will, wie er einmal formuliert hat, «aus den überkommenen Denkstrukturen» ausbrechen. Wenigstens für Fälle wie Sobibor, für das fabrikmäßige System des NS-Massenmordes, scheint ihm die traditionelle Koppelung der Strafe an eine ganz bestimmte Tat unsinnig. «In solch einer Konstellation ist die Frage nach der individuellen Tat bizarr», erklärt Walther Anfang Februar 2010 bei seiner Vernehmung durch das Münchner Gericht. 1871, als das Strafgesetzbuch erlassen worden sei, habe noch niemand «das industrielle Töten für möglich, überhaupt für denkbar gehalten». Und nach dem Massenmord, nach 1945, sei eine Juristengeneration am Werk gewesen, die wegen ihrer Verstrickung in das NS-System selbst belastet gewesen sei und sich «unter Rückgriffauf allerlei Entscheidungen des Reichsgerichts herausgewunden» habe. In diese Tradition will sich Walther nicht stellen.
Tatsächlich hat die Forderung nach dem individuellen Schuldnachweis in der juristischen Aufarbeitung des NS-Unrechts zu teils absurden Urteilen geführt. Das zeigte sich etwa in dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963, dem fraglos wichtigsten Verfahren gegen nationalsozialistische Massenmörder. Auch dort verlangten die Richter den individuellen Tatnachweis, da nicht etwa das mit dem Namen Auschwitz gekennzeichnete Menschheitsverbrechen vor Gericht stehe, wie es hieß, sondern die Auschwitz-Täter als Individuen.
Die höchste Strafe – lebenslänglich Zuchthaus plus 15 weitere Jahre Zuchthaus – erhielt denn auch folgerichtig nicht etwa einer der Männer aus der Lagerführung. Sondern einer, der in der Hierarchie weit unten gestanden hatte: der ehemalige Tischlergeselle und SS-Oberscharführer Josef Klehr, so etwas wie ein Feldwebel. Er wurde wegen Mordes aus niederen Beweggründen verurteilt, weil ihm dank einer Zeugenaussage nachgewiesen werden konnte, dass er am Heiligen Abend 1942 eigenmächtig an die zweihundert jüdische Gefangene aus dem Häftlingskrankenhaus mit Giftinjektionen getötet hatte. Da war sie, die individuelle Tat, klar umrissen, samt Datum und Mordwerkzeug.
Der Angeklagte Robert Mulka hingegen, der als Adjutant des Lagerkommandanten Höß fungiert und auf dessen Befehl die Selektionen auf der Rampe vorgenommen hatte, eine zentrale Figur des Massenmordes also, bekam lediglich 14 Jahre Zuchthaus. Er sei nicht selbst Täter gewesen, argumentierte das Gericht,
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