Der Fall Demjanjuk
Gleichheit im Unrecht, keinen Anspruch darauf, zu Unrecht freigesprochen zu werden, weil in vergleichbaren Fällen zu Unrecht nicht ermittelt oder nicht verurteilt wurde.»
Und schließlich, das wird Thomas Walther vor Gericht sehr nachdrücklich betonen, könne er ja überhaupt nicht nach Gutdünken über die Ermittlungen entscheiden. Als Richter und Staatsanwalt habe er das Gesetz zu befolgen, und das binde ihn an das Legalitätsprinzip: Er müsse ermitteln, er müsse anklagen, wenn es genügend Anhaltspunkte für ein Verbrechen wie Mord gebe. Da bleibe kein Ermessen. Im Gegenteil: Er drohe sich wegen Strafvereitelung selbst strafbar zu machen, wenn er einen gut recherchierten, gut begründeten Verdacht gegen Demjanjuk habe, aber auf Vorermittlungen verzichte. «Wenn da in fünf Jahren ein Staatsanwalt kommt und mich fragt, warum hast Du nichts unternommen – was soll ich dem antworten?»
138 Seiten zählt der «Schlussbericht», den Kirsten Goetze und Thomas Walther nach zehnmonatigen Ermittlungen, am 11. November 2008, nicht zufällig fast genau siebzig Jahre nach der Reichspogromnacht von 1938, wie Thomas Walther gern betont, an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München senden. «Im Ergebnis der Ermittlungen steht nach Überzeugung der Zentralen Stelle Ludwigsburg fest», heißt es auf Seite 134, «dass der staatenlose Beschuldigte John Demjanjuk als Angehöriger der im SS-Ausbildungslager Trawniki ausgebildeten Wachmannschaften mindestens Beihilfe zu der grausamen Ermordung von insgesamt mindestens 29.000 Juden – vornehmlich aus den Niederlanden und anderen europäischen Staaten, – davon mindestens 1939 deutschen Juden – geleistet hat.»
Anfang März 2009 erlassen die Münchner Staatsanwälte Haftbefehl gegen John Demjanjuk. Wieder – wie schon einmal, im Februar 1986 – wird er von US-Beamten in ein Flugzeug gesetzt, in eine zum Krankentransporter umgebaute zweimotorige Gulfstream, und aus den USA ausgeflogen. Am 12. Mai 2009, um kurz nach neun Uhr in der Frühe, landet John Demjanjuks Maschine auf dem Flughafen München.Er ist wieder in Deutschland. In dem Land, das sein Leben durcheinandergeworfen hat. Ein Krankenwagen bringt ihn in die Justizvollzugsanstalt Stadelheim im Süden Münchens.
Fünf Stunden nach der Landung, gegen 14 Uhr, wird Demjanjuk dort der Haftbefehl, Aktenzeichen 115 Js 12496/08, vorgelesen. Eine Dolmetscherin übersetzt ins Ukrainische. Eine Stunde dauert die Prozedur, Demjanjuk äußert sich nicht zur Sache, das hat ihm sein Anwalt geraten, er bestätigt nur, er habe verstanden.
Ein Kreis schließt sich. 1942 haben ihn die Deutschen auf der Krim gefangen genommen, jetzt ist er wieder ein Gefangener der Deutschen. Und er wird, so viel scheint in diesem Moment sicher, in Deutschland sterben. Das Land ist sein Schicksal.
Der Fremde im Rollstuhl
Acht Minuten nach elf, viel später als geplant, öffnet sich endlich die schmale Tür links von der Richterbank. Es ist der Moment, auf den alle gewartet haben. Zum ersten Mal erscheint John Demjanjuk vor dem Schwurgericht. Zum ersten Mal seit Monaten, seit er aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland gebracht worden ist, wird man ihn jetzt tatsächlich sehen können. Fast schlagartig wird es still im großen Saal des Münchner Strafjustizgebäudes. Die Zuschauer, die Anwälte, die zahllosen Journalisten und die Angehörigen der Opfer, sie alle schweigen und starren hinüber auf die Tür, aus der zuerst ein Sanitäter tritt. Einen Augenblick später taucht der Rollstuhl auf, in dem Demjanjuk sitzt. Oberkörper und Beine des Angeklagten stecken unter einer hellblauen Decke, auf dem Kopf trägt er eine graue Baseballkappe und an seinen Füßen weiße Turnschuhe.
Aber irgendetwas läuft schief, vielleicht stellt sich der Sanitäter, der Demjanjuk schiebt, ungeschickt an, für einen Moment bleibt der Rollstuhl stecken, die Tür ist zu schmal, das Gefährt verkantet sich, es geht weder vor noch zurück. Demjanjuk stöhnt kurz auf, zwei Helfer eilen herbei, ruckeln und zerren an dem Rollstuhl, bis er sich wieder bewegen lässt, und dann schieben sie ihn vorsichtig in den Gerichtssaal, wie eine empfindliche Fracht. Es ist nur ein kleines Malheur, eine Nichtigkeit, die alle Beteiligten vermutlich gleich wieder vergessen haben, aber es fällt schwer, in dem kleinen Zwischenfall nicht etwas Symptomatisches zusehen. Ein Zeichen, wie vertrackt dieser Prozess ist, wie viele Stolpersteine darin lauern. Und eine Erinnerung daran,
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